Sollten Medikamente nach dem Verfallsdatum noch verwendet werden, Emre Çörek?
Text: Emre Çörek, Toxikologe
Steigende Gesundheitskosten und Lieferengpässe führen zu einem Dilemma um die Verwendung abgelaufener Arzeimittel. Antworten aus regulatorischer Sicht.
Die Haltbarkeitsdauer und die optimalen Lagerbedingungen werden vom Hersteller auf der Grundlage von Stabilitätstests festgelegt. Die Anforderungen für diese Tests sind in offiziellen Richtlinien der ICH (International Council on Harmonisation of Technical Requirements for Registration of Pharmaceuticals for Human Use) und der WHO (World Health Organisation) beschrieben.
Darin sind die Testbedingungen für drei europäische Regionen, Japan und die USA unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Klimazonen festgelegt. Für die europäische Marktzulassung werden Arzneimittel unter Bedingungen getestet, die ihre Stabilität in Realzeit (12 Monate, 25 °C, 60 Prozent relative Luftfeuchtigkeit), unter leicht beschleunigten (6 Monate, 30 °C, 65 Prozent relative Luftfeuchtigkeit) und unter stark beschleunigten Verfallsbedingungen (6 Monate, 40 °C, 75 Prozent relative Luftfeuchtigkeit) widerspiegeln.
Darüber hinaus schreiben die Richtlinien Belastungstests vor, um die Abbauprodukte und den Einfluss von sehr hohen Temperaturen, hoher Luftfeuchtigkeit (75 Prozent und darüber), Luft- und Lichtkontakt sowie weiterer chemischer Reaktionen zu ermitteln. Bei Kombinationspräparaten, die mehrere pharmazeutische Wirkstoffe enthalten, ist deren Wechselwirkung und die ihrer Abbauprodukte zu berücksichtigen.
Anschliessend prüfen Fachleute die Testergebnisse unter Berücksichtigung klar definierter Grenzwerte für einzelne und aggregierte Abbauprodukte. Daraus leiten sie Angaben zur Haltbarkeit und empfohlenen Lagerbedingungen ab, um Sicherheit und Wirksamkeit des Medikaments zu gewährleisten. Ausschlaggebend ist dabei der empfindlichste pharmazeutische Wirkstoff.
Es gibt Fälle, in denen die Haltbarkeitsdauer nach der Zulassung geändert wurde, da zusätzliche Daten verfügbar waren. Ein Beispiel hierfür ist der Covid-19-Impfstoff «Comirnaty» von Pfizer/BioNTech. Bei der Zulassung Ende 2020 fehlten umfassende empirische Daten zur Haltbarkeit. Als die Hersteller diese 2022 vorlegen konnten, bewilligte die Schweizer Zulassungsbehörde für Heilmittel Swissmedic die Verlängerung der Haltbarkeitsdauer.
Aus regulatorischer Sicht lässt sich also feststellen, dass die aktuellen Richtlinien auf wissenschaftlich fundierten Daten basieren und die Sicherheit der Patientinnen und Patienten bestmöglich gewährleisten.
Gleichzeitig bieten sie einen klaren Rahmen für die Prüfung von Medikamenten. Das ist für die Hersteller von grosser Bedeutung, da es ihnen Planbarkeit und eine verlässliche Kostenabschätzung ermöglicht.
Künftig könnten zusätzliche Regelungen, zum Beispiel weitere Haltbarkeitstests, erforderlich sein, um bestehende Herausforderungen wie die steigenden Gesundheitskosten und die zunehmende Arzneimittelknappheit zu adressieren. Auch die Vorgaben für zusätzliche Tests müssen aber auf einem wissenschaftlichen Konsens beruhen und einen klaren Rahmen für die Herstellerfirmen bieten.
Emre Çörek ist promovierter Experte für regulatorische Toxikologie in der Gruppe von Ellen Fritsche an der
Universität Basel und am Schweizerischen Zentrum für angewandte Humantoxikologie.
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