Wohngemeinschaft Mensch.
Text: Katrin Bühler
Es gibt sie billionenfach in unserem Körper: Bakterien, Pilze und Viren. Meist sind sie unauffällige Mitbewohner, doch sie beeinflussen uns lebenslang. Wenn die Harmonie in dieser Wohngemeinschaft – dem sogenannten Mikrobiom – verloren geht, drohen Krankheiten.
Der Mensch ist ohne seine mikroskopisch kleinen Mitbewohner nicht denkbar. Wir sind gewissermassen abhängig von ihnen. Auf unserer Haut, den Schleimhäuten, auf den Zähnen und in unserem Darm tummeln sich Bakterien, Viren und Pilze. Insgesamt bevölkern uns etwa 100 Billionen Mikroorganismen, dem stehen nur etwa 30 Billionen Körperzellen gegenüber. Da kann man sich berechtigterweise die Frage stellen: Wer bin ich und wenn ja, wie viele? Allein an Bakterien tragen wir rund zwei Kilogramm mit uns herum. Die meisten davon befinden sich im Darm: In nur einem Gramm Stuhl leben mehr Bakterien als Menschen auf der Erde – etwa eine Billion.
Im täglichen Leben bekommen wir kaum etwas von unseren Mitbewohnern mit. Sie leben in friedlicher Symbiose in und auf unserem Körper. Sie helfen uns dabei, die Nahrung zu verdauen, sie produzieren Vitamine und bilden ein Schutzschild gegen Krankheitserreger. «In den letzten zehn Jahren haben wir gelernt, dass die Mikroben und unser Körper intensiv miteinander kommunizieren», sagt Urs Jenal, Professor für Molekulare Mikrobiologie am Biozentrum der Universität Basel. «Im Lauf der Menschheitsgeschichte hat sich ein sehr enges Verhältnis herausgebildet. Davon profitieren wir auf ganz vielfältige Weise.»
Nahrung effizienter verwerten
Wir benötigen die Darmflora zum Beispiel für den Abbau von pflanzlichem Material, denn unser Körper ist dazu nicht in der Lage. Unser Mikrobiom stellt uns rund 300 Mal so viele Gene zu Verfügung, wie wir selber im Erbgut tragen. Dies erweitert unseren Werkzeugkasten an Enzymen enorm. Je besser wir mit Enzymen ausgestattet sind, desto effizienter können wir die Nahrung verwerten. Insgesamt führen die Darmbakterien mehr Stoffwechselreaktionen aus als die menschliche Leber. Jenal: «Etwa 30 Prozent der Stoffwechselprodukte im Blut stammen von unseren Mitbewohnern.»
Zahlreiche Studien belegen, dass unser Mikrobiom einen grossen Einfluss auf unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden hat. So ist es beispielsweise in der Frühphase des Lebens ein wichtiger Trainingspartner für unser Immunsystem. Mit seiner Hilfe lernt es, Ungefährliches zu erkennen und die entstehende Mikrobiota nicht als Fremde zu bekämpfen. Fehlen die Mikroben in einer bestimmten Phase der Entwicklung oder verändert sich das Mikrobiom, so kann das Immunsystem schnell überreagieren. Die Folge sind Allergien und Asthma, aber auch Autoimmunerkrankungen. Neuere Studien weisen gar auf einen Zusammenhang zwischen der Darmflora und psychischen Erkrankungen wie Depressionen hin.
Der moderne Lebensstil ist jedoch für ein gesundes Mikrobiom nicht gerade förderlich. «Mit einer ungesunden Ernährungsweise bringen wir das fein austarierte Gleichgewicht unserer Darmflora massiv durcheinander», so Jenal. «Bei Übergewichtigen zum Beispiel verändert sich die Zusammensetzung der Darmflora, und die Artenvielfalt nimmt deutlich ab. Und wenn man das Mikrobiom von fettleibigen Mäusen auf ihre normalgewichtigen Artgenossen überträgt, so werden diese auch selbst dann dick, wenn ihre Nahrung nicht umgestellt wird.»
Verlust an Artenvielfalt
In unserem Darm leben etwa 1000 bis 1400 verschiedene Bakterienarten, von denen eine ganze Reihe pathogen ist. Die Gesamtpopulation hält diese allerdings in Schach, indem sie ihnen erfolgreich die Ressourcen streitig macht. Der Verlust der Artenvielfalt schwächt jedoch den Schutzschild gegen Krankheitserreger, welche so die Oberhand gewinnen und die gesunde Darmflora überwuchern können. Solche als Dysbiosen bezeichneten Verschiebungen führen zum Beispiel zu Durchfall, Bauchschmerzen und chronischen Darmentzündungen.
Manchmal sind es aber auch unsere ganz normalen Darmbewohner, die Probleme bereiten. Das Bakterium Clostridium difficile ist so ein Fall. «Wenn sich die Zusammensetzung des Mikrobioms durch Antibiotikatherapien verschiebt, kann sich dieses Bakterium besonders gut vermehren und sein pathogenes Potenzial entfalten», erklärt Jenal. «Davon sind meist hospitalisierte Patienten betroffen. Manchmal helfen dann nur noch Stuhltransplantationen. In einigen Spitälern in der Schweiz wird diese Therapie offenbar bereits erfolgreich eingesetzt.»
Dass die Bakterienvielfalt im Darm abnimmt, lässt sich seit einiger Zeit beobachten. Möglicherweise sind wir gerade dabei, die Balance und Diversität zu kippen, die der Mensch über eine halbe Million Jahre erworben hat. Ein Hinweis, der diese These stärkt, ist die Beobachtung, dass Naturvölker wie zum Beispiel die Yanomami-Indianer in Südamerika eine wesentlich höhere Artenvielfalt besitzen als Menschen mit einem modernen Lebensstil. «Viele sehen den Grund für den Artenschwund darin, dass wir heutzutage zu steril aufwachsen. Wir kommen nicht mehr ausreichend mit Dreck in Berührung und sammeln deshalb nicht genügend wichtige Mikroorganismen ein. Eine übertriebene Hygiene tut ihr Übriges.»
Jeder hat seine Darmflora
Die Theorie vom «schwindenden Mikrobiom» besagt, dass unser moderner Lebensstil und nicht zuletzt auch die medizinischen Errungenschaften für den Rückgang der Vielfalt verantwortlich sind. Heute kommen immer mehr Babys per Kaiserschnitt zur Welt, die Mütter stillen weniger als früher. Dies beeinträchtigt die Weitergabe des Mikrobioms von der Mutter zum Kind. Diese Übergabe scheint jedoch sehr wichtig zu sein. «Das Risiko, später im Leben an Asthma zu erkranken, scheint unter anderem davon abzuhängen, welche Bakterienarten den Darm in den ersten zwölf Lebensmonaten besiedeln», so Jenal. «Auch die Einnahme von Antibiotika im ersten Lebensjahr kann die Bakterienvielfalt und somit auch die Gesundheit der Kinder langfristig beeinträchtigen. » In Zwillingsstudien fanden Forscher zudem heraus, dass auch die genetische Ausstattung eines Menschen in gewisser Weise steuert, wie sich sein Mikrobiom zusammensetzt. Jeder Mensch hat seine ganz persönliche Darmflora, sie ist so individuell wie sein Fingerabdruck.
Seinen Bakterien im Darm etwas Gutes zu tun, ist gar nicht so schwierig. Wie in so vielen Fällen gilt auch hier: gesund leben. Bewegung und eine ausgewogene Ernährung mit viel Gemüse und pflanzlichen Fasern lässt die guten Bakterien gedeihen und die Artenvielfalt wachsen. Um seine Ernährungsgewohnheiten umzustellen, ist es nie zu spät. Denn schliesslich lebt es sich in einer Wohngemeinschaft viel besser, wenn das Klima stimmt.
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