Erinnern und Vergessen.
Text: Angelika Jacobs, Illustrationen: Studio Nippoldt
Vom Entstehen und Vergehen der Erinnerung: Eine Reise von den ersten Nervenzellen bis über den Tod hinaus.
41–0 Wochen vor Geburtstermin
Frühe Hirnstrukturen. Erste Vorläufer-Nervenzellen bilden sich bereits wenige Tage nach der Befruchtung der Eizelle. Nach rund zwei Wochen entsteht mit dem sogenannten Neuralrohr die erste Hirnstruktur. Nach etwa 14 Wochen sind mit dem Hippocampus und dem Temporallappen bereits wichtige Hirnstrukturen angelegt, die eine zentrale Rolle für Gedächtnisprozesse spielen.
0–6 Monate: Gesichter erkennen.
Babys entwickeln früh die Fähigkeit, Gesichter der engsten Familienmitglieder wiederzuerkennen, und verfügen so bereits über eine komplexe Gedächtnisleistung. Das Gehirn beginnt, Nervenzellen aufgrund von Wahrnehmungen zu verknüpfen. In den ersten Lebensjahren produziert das Hirn einen Überschuss dieser Verknüpfungen (Synapsen), die später jedoch in grosser Zahl wieder aussortiert werden.
0–2 Jahre: Wachsendes Erinnerungsvermögen.
In den ersten zwei Lebensjahren verlängern sich fortlaufend die Zeiträume, über die sich Babys Dinge merken können. Mit sechs Monaten können sie durch Imitation Gelerntes zwar nach 24 Stunden noch reproduzieren, nach 48 Stunden jedoch nicht mehr. Mit neun Monaten können sie das Gelernte schon für vier Wochen behalten, mit 20 Monaten für mehr als ein Jahr.
≈1 Jahr: Gehen, Fahren, Schwimmen.
Wenn wir gehen lernen, ist das sogenannte prozedurale Gedächtnis gefragt: Es speichert Bewegungsabläufe, die es zum Laufen und später zum Velo fahren oder Schwimmen braucht. Diese Erinnerungen müssen nicht bewusst abgerufen werden. Das prozedurale Gedächtnis gehört damit zum impliziten Gedächtnis, das unbewusste Erinnerungen abspeichert.
2–3 Jahre: Früheste Erinnerungen.
Das explizite Gedächtnis, also das bewusste Erinnern an Ereignisse, verbessert sich. Viele haben aus dieser Zeit oder etwas später die frühesten Kindheitserinnerungen, meist an ein besonderes Ereignis wie an einen Geburtstag. Auch die Entwicklung der Sprache ist eng mit der Reifung des Gedächtnisses verknüpft: Mit der Sprache wird es möglich, Informationen im Kopf oder laut zu wiederholen, um sie sich besser zu merken.
≈4 Jahre: Zukunftspläne.
Kinder entwickeln in dieser Phase das prospektive Gedächtnis, also die Fähigkeit, sich daran zu erinnern, eine bestimmte Handlung zum richtigen Zeitpunkt auszuführen. Diese Art der Erinnerung bezieht sich somit nicht auf Vergangenes, sondern auf Absichten für die Zukunft, und liegt damit allem planvollen Handeln zugrunde.
6 Jahre, ab Schulalter: Fakten lernen.
Das semantische Gedächtnis, also die Fähigkeit, sich Fakten zu merken, verbessert sich in dieser Phase merklich, ebenso das Langzeitgedächtnis. Kinder entwickeln in diesem Lebensabschnitt aber auch die Fähigkeit, Erinnerungen bewusst zu unterdrücken.
12–18 Jahre: Unvergessliche Teeniezeit.
Erlebnisse, Lieder, Orte und Menschen aus dieser Phase des Heranwachsens bleiben mit grösserer Wahrscheinlichkeit auch 20 Jahre später oder ein Leben lang im Gedächtnis. 30-Jährige haben die stärksten Erinnerungen an ihre Teenagerzeit. In der Forschung spricht man auch vom «Reminiscence Bump».
> 12 Jahre: Infos aus dem Internet.
Wenn Jugendliche und Erwachsene zunehmend Zeit im Internet verbringen, bleibt das nicht ohne Folgen für das Gedächtnis. Menschen merken sich Informationen schlechter, wenn sie davon ausgehen, dass man sie einfach online finden kann. Fachleute sprechen auch vom Google-Effekt oder von digitaler Amnesie.
≈14–20 Jahre: Der erste Kuss.
Den ersten Kuss vergessen wir nie. Zu verdanken haben wir das der direkten Nachbarschaft zweier Hirnstrukturen, die für das episodische Gedächtnis auf der einen und Emotionen auf der anderen Seite eine zentrale Rolle spielen: des Hippocampus und der Amygdala. Ihr Wechselspiel sorgt dafür, dass aussergewöhnlich schöne, aber auch aussergewöhnlich schlimme Erlebnisse ins Gedächtnis eingebrannt bleiben.
18–45 Jahre: Stilldemenz? Schlafmangel!
Werdende und frischgebackene Mütter haben oft das Gefühl, ihr Gedächtnis lasse sie im Stich. Im Verdacht stehen dabei meist die Hormone. Doch lässt sich dieses auch Schwangerschafts- oder Stilldemenz genannte Phänomen mit objektiven Tests nicht nachweisen. Sehr viel wahrscheinlicher ist der ständige Schlafmangel Grund für die Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen. Erwiesen ist aber, dass Hormone wie Cortisol und Östrogene durchaus Einfluss auf die Reizübertragungen im Gehirn haben.
≈50 Jahre: Was war doch gleich ...?
Mit dem episodischen Gedächtnis und dem Arbeitsgedächtnis, das uns erlaubt, uns beispielsweise eine Telefonnummer für bis zu knapp einer Minute zu merken, geht es bereits ab 25 Jahren langsam bergab, ab 50 dann deutlich. Dafür nimmt die sogenannte kristalline Intelligenz zu, also die Fähigkeit, aus unseren Erfahrungen zu lernen und Analogien zu ziehen.
≈60 Jahre: Langsameres Lernen.
Nervenzellen beginnen mehr und mehr zugrunde zu gehen, aber körperliche und geistige Aktivität, zum Beispiel durch soziale Kontakte, halten auch das Gedächtnis länger in Schuss. Neues zu lernen ist auch im Alter noch möglich, etwa ein Instrument oder eine Sprache. Das Lernen braucht aber länger, weil Informationen weniger leicht vom Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis übergehen. Mit höherem Alter bleiben Erlebnisse aus der Jugend noch präsent, während jene der vergangenen Woche rasch verblassen.
Sterben und Tod.
Mit dem Tod beginnen unsere letzten Nervenzellen abzusterben und damit auch die physische Grundlage unserer Erinnerungen. Wir können zum Teil des sogenannten kollektiven Gedächtnisses unseres direkten Umfelds werden.
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