Brandherde im Gehirn löschen.
Text: Ori Schipper
Wer eine rätselhafte Erkrankung wie Multiple Sklerose erforscht, stösst immer wieder auf Überraschungen. Zum Beispiel auf Abwehrzellen aus dem Darm, die ins Gehirn wandern – und dort Entzündungen abschwächen.
Sie gilt als «Krankheit mit tausend Gesichtern». Denn die Multiple Sklerose (MS) äussert sich mit Symptomen, die sich nicht nur von Person zu Person stark unterscheiden, sondern auch bei derselben Person je nach Schweregrad der Erkrankung und der Tagesform variieren.
«Wir sehen Patientinnen und Patienten, die auch im fortgeschrittenen Alter noch Marathon laufen, aber auch solche, die schon wenige Jahre nach der MS-Diagnose im Rollstuhl sitzen», sagt Anne-Katrin Pröbstel, Forschungsgruppenleiterin an den Departementen Biomedizin und Klinische Forschung der Universität Basel sowie Leitende Ärztin an der Neurologischen Klinik des Universitätsspitals Basel.
Fehlgeleitete Abwehrzellen
Vielleicht noch rätselhafter als die vielen Erscheinungsbilder der Krankheit ist deren Ursache. Die Wissenschaft ist sich zwar einig, dass es sich um eine Autoimmunerkrankung handelt, bei der fehlgeleitete körpereigene Abwehrzellen das zentrale Nervensystem angreifen. Doch wie und wieso das passiert, ist trotz jahrzehntelangen intensiven Forschungsbemühungen immer noch nicht geklärt. Während langer Zeit standen T-Zellen im Fokus, die ungefähr 80 Prozent aller Immunzellen ausmachen. Schon vor mehr als 30 Jahren haben Forschende in Versuchen mit Mäusen T-Zellen mit entzündlichen Erkrankungen im Gehirn in Zusammenhang gebracht.
Der Bedeutung der anderen grossen Gruppe von Abwehrzellen, der B-Zellen, wurde der Wissenschaft erst viel später klar, als 2007 eine klinische Studie für Aufsehen sorgte: Ein Medikament, das sich gegen B-Zellen richtete, führte zu einer fast vollständigen Reduktion von entzündlichen Läsionen. «Das war eine Sensation», erinnert sich Pröbstel. Alle vorherigen Medikamentenversuche hatten die Entzündungen viel weniger stark reduziert. Untersuchungen des Bluts und des Nervenwassers der Patientinnen und Patienten ergaben jedoch, dass die Spuren der Aktivität von B-Zellen nicht ganz verschwunden waren. Und der Wirkstoff zwar viele, aber nicht alle B-Zellen eliminierte.
Daraufhin entwickelten Forschende ein weiteres Medikament, das breiter wirkte – und ausnahmslos alle B-Zellen ins Visier nahm. Doch die Studie mit dem neuen Wirkstoff erwies sich als Fehlschlag. «Anstatt die Zahl der Entzündungen im Gehirn zu reduzieren, führte die Behandlung zu mehr Krankheitsschüben. Damals verstand das niemand», sagt Pröbstel. Es sollten weitere fünf Jahre vergehen, bis sie zusammen mit Kolleginnen und Kollegen auf eine mögliche Erklärung für die enttäuschenden Resultate stiess.
Vergleich von Stuhlproben
Bevor sie 2019 ihre heutige Stelle in Basel antrat, war die forschende Ärztin in San Francisco tätig, wo sie das Zusammenspiel von B-Zellen mit den Mikroben im menschlichen Darm unter die Lupe nahm.
Dass die kleinen Lebewesen im Verdauungstrakt das Krankheitsgeschehen bei MS beeinflussen, hatten frühere Studien bereits gezeigt: Mit Analysen der Darmflora bei MS-Betroffenen und Gesunden wiesen sie Unterschiede in der Zusammensetzung der Mikrobengemeinschaft nach. Andere Versuche belegten, dass diese Unterschiede krankheitsrelevant sind: Verpflanzten Forschende Stuhl von Patientinnen und Patienten mit MS in den Darm von Mäusen, führte dies zu Entzündungen im zentralen Nervensystem der Nagetiere.
«Die B-Zellen im Darm scheiden Antikörper aus; und sorgen so für eine ausgeglichene Darmflora», sagt Pröbstel. Eigentlich sollten sie, gerade während eines akuten MS-Schubs, jede Menge zu tun haben. Doch als das Team um Pröbstel Stuhlproben von Patientinnen und Patienten mit einem akuten Schub mit Proben von Betroffenen verglich, deren Erkrankung ruhte, erlebten die Forschenden eine Überraschung. Der Stuhl in der akuten Phase enthielt nicht mehr, sondern weniger Antikörper als der Stuhl in Zeiten, in denen sich die Krankheit nicht bemerkbar macht. «Wir fragten uns: Wo sind denn die B-Zellen hin?», erzählt Pröbstel.
Weiterführende Versuche ergaben, dass die B-Zellen im Darm in akuten Krankheitsphasen aus dem Verdauungstrakt ins zentrale Nervensystem wandern und dort Entzündungen abschwächen. «Das hatten wir nicht erwartet. Offensichtlich gibt es nicht nur böse B-Zellen, welche die Krankheitsschübe befeuern, sondern auch gute, die die Entzündungen im Zaum halten», sagt Pröbstel. Der Wirkstoff mit dem breiteren Wirkungsspektrum schnitt also wahrscheinlich deshalb so schlecht ab, weil er nicht nur die bösen, sondern vor allem auch die guten B-Zellen beseitigte.
Aus dem Darm ins Hirn
Pröbstel denkt, dass die B-Zellen aus dem Darm auch bei anderen Autoimmunerkrankungen – wie etwa Diabetes Typ I, systemischem Lupus und rheumatoider Arthritis – eine ähnlich schützende Rolle spielen könnten. Kürzlich ist das Team um Pröbstel auch im Nervenwasser von Patientinnen und Patienten, die an schweren neurologischen Folgen einer Covid-Erkrankung litten, auf B-Zellen aus dem Darm gestossen. Pröbstel beschreibt die B-Zellen aus dem Darm als «eine Art Feuerwehr». Wenn im Körper alles in Ordnung ist, sitzen sie in der Darmschleimhaut und beschäftigen sich damit, die riesige Vielfalt an Mikroben in einem gesunden Gleichgewicht zu halten. Doch wenn an einer bestimmten Stelle im Körper eine entzündliche Reaktion aufflammt, schwärmen die B-Zellen aus dem Darm aus, um das Feuer zu löschen.
Mit ihren Arbeiten trägt Pröbstels Forschungsgruppe zu einem tieferen und besseren Verständnis des Krankheitsgeschehens bei Multipler Sklerose bei. Doch darüber hinaus lassen sich aus den Erkenntnissen vielleicht auch neue Behandlungsansätze ableiten, hofft die forschende Ärztin. Sie kann sich zum Beispiel vorstellen, dass man Patientinnen und Patienten künftig ausgewählte Darmbakterien verabreichen könnte, die zur Vermehrung der guten B-Zellen im Darm führen. Quasi zur Stärkung der B-Zellen-Feuerwehr, damit allfällige Brände möglichst schnell unter Kontrolle gebracht werden können.
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