«Fragen der Vergangenheit werden stark instrumentalisiert»
Mit Georgiy Kasianov forscht zurzeit einer der führenden ukrainischen Historiker an der Universität Basel. Im Interview spricht er über die Instrumentalisierung von Geschichte in Konflikten – und was Historiker dagegen machen können.
22. März 2017
Herr Kasianov, Sie forschen zum politischen Gebrauch und Missbrauch von Geschichte. Welche Rolle spielt die Geschichte im Konflikt in der heutigen Ukraine?
Ich würde nicht sagen, dass es eine ukrainische Eigenheit ist, mehr Geschichte zu produzieren, als sie verdauen kann (um Churchills berühmtes Diktum über den Balkan zu zitieren). Das ist ein Trend, den wir in den vergangenen Jahrzehnten allgemein in Europa gesehen haben. Jedoch ist in der Ukraine das Niveau extrem hoch, auf dem die Vergangenheit instrumentalisiert wird. Das bedroht akut die innere Einheit eines Landes, das kulturell geteilt ist. Bestimmte Regionen im Osten und Süden neigen zu sogenannten sowjetnostalgischen Narrativen der Vergangenheit. Hingegen stützen sich die zentrale und nördliche Ukraine eher auf klassisch-nationale oder gemischte Narrative oder sogar – wie die Westukraine – auf radikal nationalistische Narrative. Diese Narrative wurden instrumentalisiert und politisiert, wodurch sie eine Grundlage für interne Konflikte liefern. Besonders jetzt, wo wir einen Krieg in der östlichen Ukraine haben und beide Seiten die Vergangenheit verwenden, um ihre Position zu legitimieren.
Wo lassen sich diese Narrative im Alltag beobachten?
Die von Russland unterstützten Rebellen im Osten greifen beispielsweise intensiv auf das Narrativ des Grossen Vaterländischen Kriegs zurück. Wenn sie ihre Gegner Banderowzy (ein Synonym für faschistische Kollaborateure) oder Karately (Bestrafer) nennen, benutzen sie die sowjetische Sprache des Zweiten Weltkriegs. Die ukrainische Seite benutzt ebenso eine Terminologie, die ihre Wurzeln in der Vergangenheit hat. Sie verwendet die Rhetorik der nationalistischen Guerilla aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs sowie Kosakenmythen, um ihre Position zu verdeutlichen und die Moral zu stärken. Das ist nichts Neues – es gibt zahlreiche Fälle in der Geschichte, wo wir sehen können, dass in Zeiten politischer Machtkämpfe Probleme der Vergangenheit als Platzhalter für aktuelle Probleme hervorgeholt werden.
Weshalb sind die historischen Narrative im politischen Diskurs so mächtig und verführerisch?
Ich glaube nicht, dass die Menschen in ihrem täglichen Leben intensiv über die Geschichte nachdenken und dass sie von der Vergangenheit so besessen wären, dass sie sie aktiv in die Gegenwart überführen. Die Vergangenheit wird instrumentalisiert und manipuliert, um sie attraktiver zu machen. Wenn sich die Menschen in komplizierten und beängstigenden Situationen befinden, seien sie politisch, ökonomisch, sozial, etc., suchen sie nach etwas, das ihnen Stabilität verleiht. Geschichte ist eines der Werkzeuge, die für diesen Zweck verwendet werden können. Im Fall der Ukraine würde ich sagen, dass Geschichte oder eine instrumentalisierte Vergangenheit als eine Art Bürgerreligion dient, und deshalb ist sie so attraktiv und so verlockend. Und aus diesem Grund verwenden die Politiker die historischen Narrative so intensiv.
Was können Sie als Historiker dem entgegenhalten?
Nun, es ist für Historiker und Akademiker keine leichte Aufgabe, sich dagegen zu wehren. Natürlich versuchen wir zu erklären, dass die Vergangenheit der Vergangenheit angehört und dass wir uns auf die Lösung unserer zeitgenössischen Probleme konzentrieren sollten. Leider haben wir nicht die gleichen Ressourcen wie die Politiker, was es zu einem sehr unfairen Kampf macht. Als Historiker versuchen wir zu erklären, was in der Vergangenheit passiert ist und warum wir davon nicht so besessen sein sollten. Allerdings gibt es viel mächtigere Kräfte, die daran interessiert sind, das genaue Gegenteil zu tun, nämlich mit der Geschichte Kriegspropaganda zu betreiben. Leider sind auch viele Historiker bereit, solchen Politikern zu dienen.
Geschichte wird von der Politik oft instrumentalisiert, um Rechte abzuleiten oder Schuld zuzuweisen. Kann Geschichte umgekehrt auch Brücken bauen?
Ja, auf jeden Fall. Wir führen diese Diskussion in der Ukraine seit dem Ende der Neunziger Jahre. Sie begann mit einer Debatte über die Geschichtslehrbücher für die Sekundarschule. Eine Mehrheit der Experten befand damals, dass die Bücher zur ukrainischen Geschichte ethnisch exklusiv seien; sie stellten die Geschichte der Ukraine ausschliesslich als eine Geschichte der ethnischen Ukrainer dar. Dies schliesst alle andere ethnische Gruppen – die etwa 24 Prozent der ukrainischen Bevölkerung stellen – aus der Geschichte des Landes aus. Darüber hinaus wurden einige dieser Gruppen wie Polen oder Krimtartaren als bösartige «Andere» präsentiert. Verschiedene Experten haben vor dieser Problematik gewarnt als Anfang der Nullerjahre eine Diskussion entstand, welche Geschichte an den Schulen gelehrt wird und über ethnischen Vielfalt im Allgemeinen. Die Fachleute brachten Vorschläge vor, wie sich die ukrainische Nationalgeschichte aus einer multiethnischen und multikulturellen Sicht darstellen liesse. Die Ukraine kann als klassisches Beispiel für eine transnationale Geschichte dienen, bei der verschiedene Kulturen während Jahrhunderten auf denselben Territorien koexistierten und sich gegenseitig beeinflussten. Wenn Sie also bereit sind, eine ethnische und kulturelle Perspektive zu integrieren, können Sie die Vergangenheit der Ukraine als eine Geschichte der Interaktion zwischen verschiedenen Kulturen und ethnischen Gruppen präsentieren. Das wäre immer noch die Geschichte der Ukraine, aber es wäre nicht mehr nur die Geschichte der ethnischen Ukrainer.
Sie arbeiten zurzeit an der Universität Basel zur Geschichtspolitik in der Ukraine. Beeinflusst die Distanz Ihren Blick auf das aktuelle Geschehen in der Ukraine?
Die Mehrheit meiner Bücher über die Ukraine habe ich im Ausland geschrieben. Ich kann Einrichtungen der internationalen akademischen Gemeinschaft benutzen und habe das Privileg, von der kulturellen Globalisierung zu profitieren. Es ist grossartig, dass ich das Land verlassen und die Probleme aus der Ferne betrachten kann. Wenn ich in der Ukraine bin, bin ich sehr eingebunden, darunter auch in politische Aktivitäten, und ich bin mir nicht sicher, dass ich immer objektiv sein kann. Bin ich ausser Landes, ist das einfacher, weil ich einen viel schärferen Sinn für das habe, was in der Ukraine passiert. Wenn ich zum Beispiel in der Schweiz bin, in einer stabilen und komfortablen Situation, in einer ausgezeichneten akademischen Umgebung mit einer exzellenten Bibliothek, habe ich Zeit zu denken, zu lesen und zur Ruhe zu kommen. Und das gibt mir eine einmalige Gelegenheit, über die Erinnerungskultur und die Geschichtspolitik mit viel Unparteilichkeit nachzudenken.
Ukrainian Research in Switzerland (URIS) – Auftaktveranstaltung am 29. März 2017
Die Initiative Ukrainian Research in Switzerland URIS möchte zur Vertiefung der Ukraine-Expertise in der Schweiz und zur ihrer internationalen Vernetzung beitragen sowie den wissenschaftlichen Nachwuchs fördern. Jährlich vergibt URIS zwei Fellowships an promovierte Forschende aus den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften, die einen sechsmonatigen Forschungsaufenthalt an der Universität Basel ermöglichen. URIS wird vom Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) finanziell unterstützt.
Ende März findet die Eröffnungsveranstaltung von URIS statt mit einem Festvortrag von Prof. Georgyj Kasianov zum Thema «Past Continuous: Politics of History in Ukraine and the ‚New Europe‘ (End of 1990s – 2000s)».
Auftaktveranstaltung von URIS. Mittwoch, 29. März 2017, 18.15 Uhr, Kollegienhaus der Universität Basel, Hörsaal 102, Petersplatz 1, Basel.