Arbeitsunfähigkeit: Medizinische Gutachter sind sich oft uneinig
Unabhängige medizinische Gutachten werden häufig verwendet, um Invaliditätsansprüche zu beurteilen. Doch oft sind Ärzte, die dieselben Patienten begutachten, punkto Arbeitsunfähigkeit unterschiedlicher Meinung. Abhilfe schaffen können standardisierte Verfahren, wie eine Studie von Forschenden der Universität Basel und des Universitätsspitals Basel in der Fachzeitschrift «BMJ» zeigt.
26. Januar 2017
Die Resultate des internationalen Forschungsteams aus der Schweiz, den Niederlanden und Kanada beruhen auf einer systematischen Überprüfung von 23 Studien, die von Wissenschaftlern und Versicherungen in zwölf Ländern durchgeführt wurden. Die früheren Untersuchungen hatten analysiert, wie gross die Übereinstimmung unter Gesundheitsfachleuten ist, wenn es galt, die Arbeitsfähigkeit von Patienten zu beurteilen, die einen Invaliditätsanspruch geltend machten.
Hälfte der Gesuche wird abgelehnt
«Weltweit wird rund die Hälfte aller Invaliditätsansprüche aufgrund unabhängiger medizinischer Gutachten abgelehnt. Wir haben in unserer Übersichtsstudie jedoch festgestellt, dass sich die Experten oft nicht einig sind, ob jemand arbeitsunfähig ist oder nicht», sagt Regina Kunz, Professorin für Versicherungsmedizin an der Universität Basel und Leiterin Evidence-based Insurance Medicine am Universitätsspital Basel.
Medizinische Gutachten werden oft zur Einschätzung einer Arbeitsunfähigkeit eingesetzt und haben weitreichende Konsequenzen für Arbeitnehmer, die ihre Arbeitsfähigkeit aufgrund von Krankheit oder Unfall eingeschränkt sehen.
Gültige Standards fehlen
Weshalb medizinische Fachleute die Arbeitsfähigkeit so unterschiedlich einschätzen, ist vermutlich auf das Fehlen gültiger Standards zurückzuführen. «Wir haben Hinweise darauf gefunden, dass strukturierte Begutachtungsprozesse die Zuverlässigkeit der Beurteilungen verbessern können», so Regina Kunz.
«Kein Gutachten ist stichhaltig, solange es nicht zuverlässig ist – das heisst solange es nicht misst, was es zu messen vorgibt», ergänzt Mitautor Jason W. Busse von der McMaster University in Hamilton, Kanada. «Unsere Ergebnisse sind beunruhigend, weil Patienten eine valide Einschätzung benötigen – einerseits, um zu vermeiden, dass es bei Erwerbsersatzleistungen zu Verzögerungen kommt, und anderseits, um durch eine angemessene Betreuung eine anhaltende Arbeitsunfähigkeit zu verhindern.»
Deshalb sollten dringend Instrumente und strukturierte Ansätze entwickelt und erprobt werden, welche die Bewertung der Arbeitsunfähigkeit verbessern, so die Forschenden.
Im Rahmen einer vom Schweizerischen Nationalfonds, dem Bundesamt für Sozialversicherungen und der Schweizerische Unfallversicherung Suva finanzierten Studie hat das Forscherteam um Professor Kunz für Menschen mit psychischen Beschwerden eine neue Methodik – die funktionsorientierte Begutachtung – entwickelt und getestet. Die Ergebnisse werden demnächst vorgestellt.
Originalbeitrag
Jürgen Barth, Wout E.L. de Boer, Jason W. Busse, Jan L. Hoving, Sarah Kedzia, Rachel Couban, Katrin Fischer, David von Allmen; Jerry Spanjer, Regina Kunz
Inter‐rater agreement of disability evaluation: A systematic review of reproducibility studies
BMJ (2017), doi: 10.1136/bmj.j14
Weitere Auskünfte
Prof. Dr. Regina Kunz, Universität Basel / Universitätsspital Basel, Tel. +41 61 328 75 67, E-Mail: regina.kunz@usb.ch