Gefährliche Nachfrage: Wie der Mensch die Artenvielfalt bedroht
Der Hai hat viele Umweltkatastrophen überlebt, könnte nun aber den Kampf gegen seinen gefährlichsten Rivalen verlieren: den Mensch. Eine neue wirtschaftswissenschaftliche Analyse zeigt, unter welchen Bedingungen eine hohe Nachfrage nicht nur zum Aussterben einer einzelnen Spezies führen kann, sondern zu einer fortschreitenden, sich beschleunigenden Massenausrottung.
19. August 2024 | Céline Emch
Laut dem Living Planet Index LPI stecken wir mitten in einer Biodiversitätskrise: In nur 50 Jahren ist der Index für die Artenvielfalt um 69 Prozent geschrumpft. Biologinnen und Biologen sprechen bereits vom sechsten Massensterben. Die Erdgeschichte hat bereits fünf Mal einen drastischen Verlust an Arten erlebt, verursacht durch Meteoriteneinschläge, Eiszeiten und Klimaveränderungen. Das derzeitige Massensterben wäre das erste menschengemachte.
Prof. Dr. Rolf Weder von der Universität Basel und Prof. Dr. M. Scott Taylor von der University of Calgary, Kanada, nahmen den offenbar drastischen Rückgang der Artenvielfalt zum Anlass, an den wirtschaftlichen Ursachen des Aussterbens zu forschen. In der wissenschaftlichen Zeitschrift «Journal of Economic Perspectives» ziehen sie theoretisch und empirisch abgestützte Rückschlüsse, wie es zu einem Massenaussterben kommen kann.
Von der Büffelhaut zur Haifischflosse
Aussterben ist zwar ein natürlicher Prozess, der jede Art betreffen kann. Durch den technologischen Fortschritt, das Bevölkerungswachstum und ein steigendes Einkommen kann eine zunehmende Nachfrage des Menschen eine Art verwundbar machen und schnell an den Rand der Ausrottung treiben.
Ein historisches Beispiel dafür ist das Erlegen von 10 bis 15 Millionen Präriebüffeln in den Vereinigten Staaten Ende des 19. Jahrhunderts. Infolge einer Innovation in der europäischen Gerbereiindustrie wurden amerikanische Büffel ausschliesslich aufgrund ihrer Häute geschossen. Während Fleisch und Knochen in der Prärie liegen blieben, wurden die Büffelhäute zur Weiterverarbeitung nach Europa exportiert. Nach zehn Jahren lebten noch etwa 100 Exemplare. «Die Rettung für die letzten Büffel war, dass die Preise für Büffelhäute wegen der alternativ existierenden Kuhhaut nicht stark stiegen; somit wurde es unattraktiv, die wenigen verbleibenden Büffel ebenfalls zu jagen», erklärt Weder.
Ein ähnliches Schicksal wie die Büffel erleiden heute die Haie; sie werden auf den Weltmeeren getötet, um dann ihre Flossen nach Asien zu exportieren, wo sie in den Haifischflossensuppen primär in China, Singapur, Malaysia und Taiwan landen.
Das Einmaleins des Aussterbens
Rolf Weder und Scott Taylor bewerten Trends wie diese auf der Basis ihrer Analyse. Ein Blick auf die Daten aus dem LPI und der «Roten Liste der bedrohten Arten» der International Union for Conservation of Nature IUCN liefert deutliche Hinweise auf eine anhaltende und sich beschleunigende Dezimierung aller gelisteten Haiarten.
Die ökonomische Theorie hilft, die Zusammenhänge zu verstehen: Da die Art des Hais, welcher im Kochtopf landet, für die Konsumentinnen und Konsumenten von Haifischflossen eine geringe Rolle spielt, werden Haie ab einer bestimmten Mindestgrösse überall gejagt und ihre Flossen weiterverkauft. Gibt es keine Einschränkungen für die Jagd, werden zunächst die Arten mit langsamen Reproduktionsraten an den Rand ihrer Existenz getrieben. Die sich schnell vermehrenden Arten können sich zunächst noch behaupten. Weder fügt hinzu: «Die höhere Wachstumsrate der verbleibenden Arten kann diese vom Aussterben retten, falls sie die Nachfrage kompensiert; allerdings nimmt die Nachfrage nach den sich schnell reproduzierenden Haien zu, weil die sich langsam vermehrenden dezimiert werden und aufgrund ihres sinkenden Bestandes immer weniger Nachkommen generieren.»
Das tödliche Duo für Artenvielfalt
Die Analyse der beiden Forscher offenbart, dass die Kombination aus konzentrierter Nachfrage der verbleibenden Arten und deren Lebensraumverlust zu einem fortschreitenden Massensterben führen kann. Das Zusammenspiel dieser beiden Kräfte kann dabei nicht nur alle Arten einer spezifischen Familie auslöschen, sondern das Aussterben einer Art nach der anderen beschleunigen. Die Autoren zeigen, dass dieser prognostizierte Zusammenhang zu den von der IUCN über die Zeit publizierten Aussterberisiken von individuellen Haiarten passt.
Politisches Zögern ist der Feind bedrohter Arten
Trotz alarmierender Daten über den Rückgang der Haibestände reagieren politische Entscheidungsträger zögerlich auf Forderungen zum Schutz der Tiere. Das internationale CITES-Abkommen, das den länderübergreifenden Handel mit gefährdeten Arten reguliert, schützt nur einen Bruchteil der gefährdeten Haie. Von den 153 hoch gefährdeten Arten, die die IUCN auflistet, ist der Handel nur bei 74 reguliert – und dies für die meisten erst seit 2023. Ein striktes Handelsverbot gilt für keine Haiart.
Aufgrund ihrer Erkenntnisse schlagen Weder und Taylor vor, den internationalen Handel für ganze Gattungen oder Familien – statt nur für einzelne bedrohte Arten – automatisch zu beschränken oder zu verbieten, wenn dazugehörige Arten ein bestimmtes Aussterberisiko erreichen und die oben betonten Zusammenhänge bestehen. Dieser Automatismus würde den politischen Prozess umkehren: Statt über Aufnahmen von Arten in die Liste müssten CITES-Mitglieder über Streichungen oder Ausnahmen abstimmen.
Auch der Living Planet Index sollte professionalisiert werden. Dazu meint Weder: «Es werden enorme Summen ausgegeben, um einzelne gefährdete Arten zu retten, aber die grundlegende Arbeit der vollständigen und regelmässigen Datenerfassung auch weniger charismatischer Arten und der korrekten Summierung von Einzelbeobachtungen zu einem Gesamtindex wird vernachlässigt. Schliesslich können wir nur retten, was auch gezählt wird.»
Originalpublikation
Taylor, M. Scott und Rolf Weder:
On the Economics of Extinction and Possible Mass Extinctions
Journal of Economic Perspectives (2024), doi: 10.1257/jep.38.3.237