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Schweizer Amtsitalienisch: Eine Minderheitensprache, aber keineswegs minderwertig

Eine Hand ruht auf einem roten Schweizer Pass, der auf einer Holzoberfläche liegt.
Die Schweiz identifiziert sich mit ihrer Mehrsprachigkeit, die in der nationalen Gesetzgebung verankert und geschützt ist. (Bild: AdobeStock)

Viele Tessinerinnen und Tessiner kennen das Gefühl, dass ihre Sprache dem Italienisch des Bel Paese unterlegen sei. Eine linguistische und vergleichende Analyse des offiziellen Schweizer Italienisch zeigt, dass dies nicht zutrifft. Dabei spielt die Übersetzungspraxis auf Bundesebene eine entscheidende Rolle.

02. September 2024 | Céline Emch

Eine Hand ruht auf einem roten Schweizer Pass, der auf einer Holzoberfläche liegt.
Die Schweiz identifiziert sich mit ihrer Mehrsprachigkeit, die in der nationalen Gesetzgebung verankert und geschützt ist. (Bild: AdobeStock)

Acht Prozent der Schweizer Bevölkerung sprechen Italienisch als Muttersprache. Sie wohnen im Tessin und in Graubünden, aber auch in der Romandie und in der Deutschschweiz. Tatsächlich zeigt die Statistik, dass es ausserhalb der italienischsprachigen Schweiz mehr Italophone gibt als innerhalb. Da Italienisch eine Amtssprache der Schweiz ist, haben die Italienischsprachigen ein Recht darauf, dass offizielle Texte des Bundes wie das Bundesblatt oder das Abstimmungsbüchlein nicht nur auf Deutsch und Französisch, sondern auch auf Italienisch veröffentlicht werden. Laut dem Sprachengesetz von 2007 sind politische und administrative Behörden auf Bundesebene verpflichtet, in den drei Amtssprachen Deutsch, Französisch und Italienisch zu kommunizieren.

«Weltweit ist wohl keine Minderheitssprache rechtlich besser geschützt als das Italienische in der Schweiz. In unserem Land herrscht es eine gleichberechtigte offizielle Mehrsprachigkeit», sagt die Linguistin Prof. Dr. Angela Ferrari von der Universität Basel. Zusammen mit ihrem Kollegen Dr. Filippo Pecorari hat sie begonnen, das von den Behörden verwendete Amtsitalienisch stärker in den Fokus von Wissenschaft, Institutionen und Gesellschaft zu rücken.

Amtssprache als Spiegel der Gesellschaft

Um die linguistischen und pragmatischen Eigenschaften dieser Sprache zu untersuchen, haben die Forschenden ein grosses Korpus offizieller Texte aus verschiedenen kommunikativen Kontexten zusammengestellt: Sie verglichen das Schweizer Amtsitalienisch mit dem offiziellen Italienisch Italiens sowie mit den anderen Amtssprachen der Schweiz.

Bild von Prof. Dr. Angela Ferrari
Prof. Dr. Angela Ferrari ist Professorin für Italienische Sprachwissenschaft an der Universität Basel und leitet mehrere kollektive Forschungsprojekte des Schweizerischen Nationalfonds, darunter das Projekt «L’italiano istituzionale svizzero: analisi, valutazioni, prospettive.» (Bild: Coopzeitung, Angela Ferrari)

Bei der Analyse der amtlichen Texte stellten sie fest, dass auf grammatikalischer Ebene keine signifikanten Unterschiede zwischen den schweizerischen und den italienischen Texten bestehen. Hingegen weicht der Wortschatz der schweizerischen Texte teilweise von jenem der italienischen Texte ab.

Den Hauptgrund dafür sehen die Forschenden vor allem in den politischen, sozialen und kulturellen Besonderheiten der mehrsprachigen Schweiz, die unter anderem zu so genannten Lehnübersetzungen führen, bei denen Wörter von einer Sprache in eine andere übertragen werden. So spricht man in der Schweiz von einem «medicamento», während in Italien für «Medikament» das Wort «medicina» verwendet wird.

«Diese lexikalischen Besonderheiten im Schweizer Italienisch führen – insbesondere in den Augen der Tessinerinnen und Tessiner – oft zu der Annahme, dass diese Varietät im Vergleich mit Italiens Italienisch minderwertig sei», erklärt Angela Ferrari. «Das ist natürlich nicht wahr: Italienisch ist eine plurizentrische Sprache. Unser Italienisch ist eine Sprache eines autonomen Staates, der das Recht hat und haben muss, seine eigenen Besonderheiten zu behalten, wie das bei Deutsch oder Französisch der Fall ist.»

Gleiche Sprache, andere Umsetzung

Neben den lexikalischen Besonderheiten zeigte sich vor allem in pragmatischer Hinsicht ein grosser Unterschied in der Amtskommunikation der beiden Länder. Der Vergleich mit den Texten aus Italien hat ergeben, dass die Schweizer Behörden grossen Wert auf Klarheit legen: Die Texte sind zielgruppengerecht und informativ, ohne die Adressaten zu überfordern: Die Sätze sind kurz, nicht zu komplex und der Wortschatz ist nicht zu fachspezifisch. «Wir waren erstaunt, wie klar verständlich die Schweizer Texte gegenüber den italienischen sind», so Filippo Pecorari.

Angela Ferrari verdeutlicht: «Auch nach Ansicht der Accademia della Crusca, der höchsten Instanz für die italienische Sprache, sind die amtlichen Texte Italiens undeutlich, bürokratisch und selbstreferentiell. Man hat das Gefühl, dass die Institutionen Italiens nur untereinander sprechen und sich nicht an die Menschen richten, die diese Texte lesen und verstehen sollen.»

Dass es den Schweizer Behörden wichtig ist, die offiziellen Texte allen zugänglich zu machen, zeigt sich auch in der Entscheidung, zunehmend «leichte Sprache» zu verwenden. Dadurch werden sie für Personen besser verständlich, die aus kognitiven, psychiatrischen oder sozialen Gründen Mühe mit Standardtexten haben. Und auch die Jugendlichen werden seit der Corona-Pandemie besser angesprochen. «Die Texte sind seither moderner geworden, denn immer mehr Bundesstellen sind nun auch auf Instagram präsent», erklärt Filippo Pecorari. Videos, Infografiken, Emojis, Links und Hashtags helfen dabei, jungen Menschen schneller und attraktiver offizielle Inhalte zu vermitteln.

Bild von Dr. Filippo Pecorari
Dr. Filippo Pecorari ist Dozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Sektion für Italienische Linguistik an der Universität Basel. (Bild: Filippo Pecorari)

Übersetzung als Mehrwert

Der Grund, weshalb die gleiche Sprache in offiziellen Texten in der Schweiz und Italien unterschiedlich verwendet wird, ist auf historische, politische und kulturelle Gründe zurückzuführen, aber er liegt auch in deren Entstehung. «Bei den offiziellen Texte des Bundes auf Schweizer Italienisch handelt es sich fast immer um Übersetzungen von deutschen oder französischen Texten. Für die Qualität der Texte ist dies erstaunlicherweise eine Chance», erklärt Angela Ferrari. Die Übersetzerinnen und Übersetzer des Bundes agieren dabei als eine Art «Testpersonen», die den Ausgangstext als Erste lesen und zu verstehen versuchen. «Sie haben einen anderen Blick auf den Text als seine Autorin oder sein Autor. Aus diesem Grund sind die übersetzten Texte manchmal sogar klarer und besser aufgebaut als die Vorlage», so Ferrari.

Die Übersetzung von amtlichen Texten erfolgt, bevor der Ausgangstext final ist. Manchmal führt der Übersetzungsvorgang dazu, dass der deutsche Originaltext noch einmal durchgesehen und geändert wird. «Wenn man sich beim Übersetzen schwertut, liegt es manchmal daran, dass der Originaltext schlecht verfasst ist», so Ferrari.

Italienisch hat noch Nachholbedarf

Im Vergleich zum geschriebenen Italienisch ist die Situation des gesprochenen eine andere. Das Team um Angela Ferrari nimmt derzeit die gesprochene italienische Amtssprache in den Blick, die beim Bund weniger präsent ist. «Wir haben festgestellt, dass der Anteil des gesprochenen Italienisch zunimmt, sobald ein Tessiner in der Landesregierung sitzt. Allerdings zeigt sich auch, dass die auf Italienisch kommunizierten Passagen einer Rede nie die wichtigsten Informationen enthalten, sondern sich eher auf Grussformeln beschränken.» Die Angst und das Risiko, von den Kolleginnen und Kollegen in Regierung und Parlament nicht verstanden zu werden, treibt die italienischsprachigen Politikerinnen und Politiker dazu, sich auf Deutsch oder Französisch auszudrücken.

An der Universität ein Textkorpus zusammenzustellen und zu analysieren ist das eine. Wichtig ist für Angela Ferrari jedoch auch, sich mit der Praxis auseinanderzusetzen und die Ergebnisse mit den Behörden zu teilen: «Wir haben das Forschungsprojekt nicht im Labor durchgeführt, sondern im Austausch mit jenen, die mit Amtsitalienisch arbeiten: mit der Bundeskanzlei, mit den Staatskanzleien Tessin und Graubünden, mit den Übersetzerinnen und Übersetzern. Nur so war es möglich, die Sprache in ihrer Tiefe zu verstehen und ihre Besonderheiten zu erklären.»

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