Seltene Netzhauterkrankungen: Detektivarbeit für das Augenlicht
Ein Team am Augenforschungsinstitut IOB und an der Universität Basel spürt den Ursachen erblicher Erkrankungen der Netzhaut nach. Die Forschenden schaffen damit wichtige Voraussetzungen für Gentherapien gegen das Erblinden.
12. Februar 2024 | Angelika Jacobs
Sie heissen etwa Retinitis pigmentosa oder Makuladystrophie: Es gibt über 20 seltene Erbkrankheiten, die zum fortschreitenden Abbau der Netzhaut und Verlust des Sehvermögens führen. Das Spezielle an diesen Erkrankungen: Sie sind genetisch extrem vielfältig.
Allein hinter der bekanntesten erblichen Netzhauterkrankung, der Retinitis pigmentosa, können Veränderungen in einem von 65 Genen stecken. Die überwiegende Mehrheit seltener Krankheiten beruht hingegen auf Veränderungen nur eines bestimmten Gens.
Bei der Retinitis pigmentosa bemerken Betroffene anfangs, dass sie nachts nicht mehr gut sehen. In einem späteren Stadium verlieren sie das Sehvermögen in der Peripherie. Ihr Blickfeld verengt sich zu einem Tunnel, der immer kleiner wird und sich letztlich ganz schliesst. Bei der Makuladystrophie ist es genau umgekehrt: Hier verlieren Betroffene zuerst das Zentrum ihres Blickfelds. Sie können Gesichter nicht mehr erkennen, keine Schilder mehr lesen, den Handybildschirm nicht mehr sehen.
Die Hoffnung im Kampf gegen solche Erkrankungen ruht auf Gentherapien, um das Sehvermögen zu erhalten oder wieder herzustellen. Dank Methoden wie der Genschere Crispr-Cas9 und deren Weiterentwicklungen könnte man den Fehler im betroffenen Gen korrigieren. Das Auge liesse sich mit dieser Methode einfacher behandeln als manch anderes Organ, weil es für Therapien besser zugänglich ist. Nur muss dafür klar sein, welches Gen es zu reparieren gilt.
Die Nadel im Heuhaufen
Bisher sind bereits über 300 Gene bekannt, in denen Mutationen zum Erblinden führen können. Dank moderner DNA-Sequenzierung und computerbasierter Analysen haben Forschende um Prof. Dr. Carlo Rivolta in den letzten Jahren mehrere neue Gene beschrieben. «Wir bekommen nicht nur DNA von Patientinnen und Patienten am Augenspital des Universitätsspitals Basel, sondern auch ungeklärte Fälle anderer Spitäler. Bei zwei von drei können wir die genetische Ursache identifizieren», erzählt der Leiter der Forschungsgruppe «Ophthalmic Genetics» am Augenforschungsinstitut IOB, das mit der Universität Basel assoziiert ist.
Die Aufgabe ist alles andere als trivial. Rivolta vergleicht die Suche nach der entscheidenden Genveränderung mit der nach einem bestimmten Sandkorn in zwei Abfalltonnen voll Sand. Das Erbgut ist von Mensch zu Mensch an vielen Tausenden Stellen leicht unterschiedlich, wie soll man da die Stelle identifizieren, die die Erkrankung ausgelöst hat?
Filtern und vergleichen
Es sei vor allem ein Filterprozess, sagt Rivolta. «Wir vergleichen das Erbgut der Patientin oder des Patienten mit dem von vielen anderen Personen. Varianten in der DNA-Sequenz, die häufig vorkommen, können wir aussortieren.» Die besonders seltenen markieren sie als verdächtig und vergleichen sie mit den Genomdaten anderer Betroffener mit Netzhauterkrankungen.
Im menschlichen Erbgut kommen die meisten Gene in zwei Kopien vor, eine Kopie vom Vater, eine von der Mutter. Eine Mehrheit der Netzhauterkrankungen wird rezessiv vererbt, das heisst, solange nur eine Kopie des Gens die Mutation trägt, ist die Person ein «gesunder Träger» (siehe Box «Risiko Blutsverwandtschaft»). Nur bei Defekten in beiden Kopien kommt es zu Symptomen. Dabei kann es sich um Veränderungen an unterschiedlichen Stellen im Gen handeln.
Stille Mutationen sind doch nicht so still
Der Anteil ungeklärter Fälle ist dank aufwändiger Erbgut-Analysen, wie sie unter anderem Rivoltas Team entwickelt hat, immer weiter geschrumpft. Vor allem auch, weil ein Umdenken darüber stattgefunden hat, wonach man suchen muss: «Früher achtete man beispielsweise kaum auf die sogenannten stillen Mutationen», erklärt Rivolta. Das sind Veränderungen im DNA-Code, die an der Abfolge der Aminosäure-Bausteine im Protein eigentlich nichts ändern. Inzwischen weiss man, dass auch solche Mutationen die Protein-Produktion empfindlich stören können. Ähnliches gilt für Mutationen, die ausserhalb der für Proteine codierenden Sequenzen im Erbgut liegen.
Rivolta ist überzeugt, dass sich viele Netzhauterkrankungen in nicht allzu ferner Zukunft mit Gentherapien werden behandeln lassen. Das industrielle Interesse sei durchaus vorhanden. Und wenn eine neue Gentherapie entwickelt wird, gebe es dank der Detektivarbeit der Genetikerinnen und Genetiker entsprechende Datenbanken, um diejenigen Patientinnen und Patienten zu rekrutieren, die davon profitieren könnten.
Risiko Blutsverwandtschaft
Im Zuge ihrer Analysen haben die Forschenden um Carlo Rivolta auch untersucht, wie viele Personen in der Bevölkerung gesunde Träger von Mutationen sind, die – wenn sie beide Allele betreffen – zu Netzhauterkrankungen führen. Demnach ist rund jede zweite Person ein gesunder Träger. Weil die Mutationen aber in über 300 verschiedenen Genen liegen können, kommt es sehr selten vor, dass zwei Personen, die eine Mutation in exakt dem gleichen Gen tragen, zusammen ein Kind zeugen.
Ausnahme sind Paare mit bestehender Blutsverwandtschaft: Im Stammbaum wird die Genmutation weitervererbt und so können zwei gesunde Träger, die entfernt miteinander verwandt sind, die gleiche Mutation an gemeinsame Kinder weitergeben. «Paare mit Blutsverwandtschaft haben das höchste Risiko, Nachwuchs mit einer seltenen Netzhauterkrankung zu haben», so Rivolta. Ihr Risiko sei im Durchschnitt sogar höher als bei nicht-verwandten Eltern, die beide an einer seltenen Netzhaut-Krankheit leiden. «Bei ihnen sind sehr wahrscheinlich unterschiedliche Gene betroffen. Und da der Nachwuchs jeweils nur eine mutierte Genkopie erbt, wird das Kind aller Wahrscheinlichkeit nach ein gesunder Träger.»
Serie zu vernachlässigten und seltenen Krankheiten
In einer mehrteiligen Artikelserie im Zeitraum zwischen dem internationalen Tag der vernachlässigten Krankheiten (30. Januar) und dem Tag der seltenen Krankheiten (29. Februar) beleuchten wir Forschung an der Universität Basel, die das Verständnis für solche Erkrankungen verbessert und neue Therapieansätze vorantreiben soll.