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Osteuropa – Von Kostümen, Konflikten und Kulturräumen (02/2015)

Altersbetreuung aus dem Osten

Christoph Dieffenbacher

Tausende von Frauen aus Osteuropa arbeiten bei Betagten in der Schweiz und betreuen sie in ihrem Zuhause oft rund um die Uhr – vermittelt von kommerziellen Agenturen, meist zu prekären Bedingungen und tiefen Löhnen.

Der 94-jährige Basler C. M.-S. lässt sich von zwei Polinnen betreuen, die ihm, sich alle drei Monate abwechselnd, den Haushalt besorgen, die ihn pflegen und in den Park begleiten, an Vorträge und ins Theater. Die 55-jährige B. M. aus Wroclav, ausgebildete Lehrerin und Psychologin, arbeitet seit Jahren in Deutschland und in der Schweiz bei alten Menschen zu Hause.

Sarah Schilliger. (Illustration: Studio Nippoldt)
Sarah Schilliger forscht zu Migration und sozialer Ungleichheit.

Sarah Schilliger, eine junge Soziologin an der Universität Basel, hat das Phänomen der sogenannten Pendelmigrantinnen aus Osteuropa untersucht – für ihre Dissertation zu deren Lebens- und Arbeitsverhältnissen hat sie mit Pflegerinnen gesprochen, ist mit ihnen im Pendelbus mitgefahren und hat Vermittlungsagenten getroffen.

Ältere helfen Betagten

«Es sind meist Frauen über 45, die hier betagte Menschen im Haushalt pflegen», sagt Sarah Schilliger, «und sie kommen aus Polen, aber auch aus Ländern wie Ungarn, Bulgarien und Rumänien.» Die Pendelmigrantinnen hätten viele Wege und Motive zur transnationalen Mobilität, gemeinsam seien ihnen aber: Mit ihrem Verdienst tragen sie zur Sicherung des Einkommens für sich und ihre Familien wesentlich bei.

Sie wandern nicht aus, um ihr Land zu verlassen, sondern um bleiben zu können. Diese Frauen, häufig mit qualifizierter Ausbildung, arbeiten in der Schweiz zu tiefen Löhnen und oft ohne Sicherheit und Sozialversicherung.

Hier werden sie als die «guten Wesen» aus dem Osten mit offenen Armen empfangen: Pflegebedürftige, die gut und günstig in den eigenen vier Wänden umsorgt werden, entlasten die Angehörigen und den Staat – auch wenn die Kosten für die vermittelnden Agenturen einbezogen werden.

Doch diese Art Frauenarbeit sei prekär, so Sarah Schilliger: «Wenn Job und Wohnen zusammenfallen, wird die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit verwischt.» Häufig seien die Frauen sozial isoliert, weil sie sich nur selten aus den Räumen des Privathaushalts bewegen können. Nicht einmal eine offizielle Zahl gibt es – die in Medien genannten 30'000 bis 40'000 hält sie für zu hoch.

Neue Versorgungslücken

Es seien im Ganzen aber «Hunderttausende von Menschen» aus Osteuropa, die «temporär im Westen einer Lohnarbeit nachgehen», sagt Sarah Schilliger. Und da die Pendlerinnen zeitweise von ihren eigenen Familien getrennt leben, ergeben sich neue Versorgungslücken.

Teils brechen damit traditionelle Formen auf, und (Ehe-)Männer beteiligen sich vermehrt in der Hausarbeit und der Betreuung der Kinder und pflegebedürftigen Eltern. Oder es rücken wiederum Frauen nach, die aus noch ärmeren Ländern kommen – wie zum Beispiel jene Frau aus der Ukraine, die sich um ihre betagten Eltern kümmert, während ihre Tochter in der Schweiz Pflegebedürftige umsorgt.

Durch solche «globalisierten Sorgeketten» würden sich weltweite Ungleichheiten verschieben und auch geschlechtsspezifische Hierarchien verfestigen, sagt die Soziologin. Sie sieht dabei Tendenzen zu einer weiteren Privatisierung und Ökonomisierung der Pflege- und Betreuungsarbeit.

In der Schweiz, wo Betreuungsarbeit als Privatsache angesehen werde, ist die Nachfrage nach den Pflegerinnen aus dem Osten stark angestiegen – auch, weil in den letzten Jahren die öffentliche Pflege stark rationalisiert wurde und private Dienste einen Aufschwung erlebt haben.

Ein weiteres Wachstum ist zu erwarten als Folge der demografischen Entwicklung, aber auch wegen des Bedürfnisses nach möglichst viel Autonomie im Alter. Was nötig sei und wofür sich die Forscherin auch persönlich einsetzt, ist, dass sich die Pflegerinnen vernetzen und sich mit den Gewerkschaften für ihre Rechte einsetzen können. Vom Staat erwartet sie, dass ihr Arbeitsschutz verbessert und dass die öffentliche Alterspflege ausgebaut statt rationalisiert wird.

Sarah Schilliger arbeitet als Oberassistentin am Fachbereich Soziologie der Universität Basel und forscht zu Migration und sozialer Ungleichheit.

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