«Big Public Data» als Gefahr
Prof. Markus Schefer
Ist «Big Public Data» eine Chance oder eine Gefahr für die Gesellschaft? Was kann die Forschung mit den vom Staat erfassten Daten machen? Wann beginnt die informationelle Selbstbestimmung des Einzelnen zu leiden? Zwei Meinungen zum Umgang mit Daten der öffentlichen Verwaltung.
Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung garantiert jedem Menschen, selber darüber bestimmen zu können, wem er welche persönlichen Angaben offenbart. Dies gilt insbesondere gegenüber dem Staat. Dieser darf persönliche Daten von Menschen nur unter sehr restriktiven Voraussetzungen sammeln, bearbeiten oder weitergeben. Damit gewährleistet das Grundrecht dem Einzelnen die Möglichkeit, selber über jene Identität zu bestimmen, mit welcher er in der öffentlichen Auseinandersetzung wahrgenommen werden will. Meine öffentliche Person soll Ausdruck meiner Autonomie sein.
In seiner bisherigen Ausprägung war der grundrechtliche Schutz in wesentlichem Masse von der Art der infrage stehenden persönlichen Angaben abhängig: Je tiefer die infrage stehenden Angaben Einblick in die Persönlichkeit der betroffenen Person geben, desto höher sind die Schranken für den Staat, sie zu erheben, zu bearbeiten oder weiter zu geben. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung erscheint vor diesem Hintergrund primär als Recht auf Datenschutz; so denn auch seine Bezeichnung in der Grundrechtecharta der EU.
Big Data stellt dieses Konzept grundlegend infrage. Zunächst verändert Big Data den Zusammenhang zwischen der Bekanntgabe persönlicher Angaben durch den Einzelnen und der Kenntnis persönlicher Eigenschaften durch Dritte, insbesondere auch den Staat. So wurde in einem konkreten Fall dargelegt, dass die in öffentlich zugänglichen Forschungsdatenbanken abgelegten anonymisierten Gensequenzen mithilfe weniger weiterer Daten konkreten Personen zugewiesen werden konnten. Dies erlaubt es Dritten, persönliche Angaben über eine Person zu kennen, die dieser unter Umständen nicht bekannt sind.
Staatliche Kenntnis einer persönlichen Eigenschaft fusst vor diesem Hintergrund nicht mehr zwingend darauf, dass der betroffene Einzelne entsprechende Angaben offengelegt hat. Verfügt der Staat über eine grosse Menge unterschiedlichster Angaben über Menschen, erlaubt es ihm Big Data, daraus mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf Eigenschaften und Verhaltensweisen einzelner Bevölkerungsgruppen oder gar Einzelner zu schliessen. So kann heute die Polizei mit Big Data jene Gebiete eingrenzen, in denen die Wahrscheinlichkeit von Einbrüchen erhöht ist. Dies erscheint wenig problematisch. Wie wäre es aber, wenn die Polizei in den so bezeichneten Risikogebieten Personen auf öffentlichem Grund auch ohne konkreten Verdacht anhält?
Agiert der Staat einer Gruppe von Menschen gegenüber allein aufgrund signifikant erhöhter Wahrscheinlichkeiten eines bestimmten Verhaltens, orientiert er sich letztlich an Stereotypen. Im Kontext von Big Data sind diese nicht Ergebnis gesellschaftlicher Meinungsbildung, sondern des Einsatzes von Algorithmen, die Korrelationen transparent machen. Dies ändert jedoch nichts Grundsätzliches daran, dass staatliche Handlungen gegenüber Einzelnen allein deshalb, weil sie einem Stereotyp entsprechen, ein Potenzial der Herabwürdigung in sich tragen.
Besonders deutlich wird dies etwa beim Einsatz von Big Data für den Entscheid über die Entlassung von Menschen aus der Verwahrung. Entsprechende Verwendungen findet Big Data bereits heute in gewissen «Parole Boards» in den Vereinigten Staaten. Das Problem liegt nicht darin, dass die Wahrscheinlichkeiten der Vorhersage zu gering sind; so ist durchaus denkbar, dass die Wahrscheinlichkeit einer richtigen Prognose höher ist als jene, welche der Gerichtspsychiater aufgrund einer Abklärung der infrage stehenden Person anfertigt. Das Problem liegt vielmehr darin, dass er Betroffene nicht als Mensch in seiner Individualität, sondern lediglich als rechnerische Einheit erfasst wird.
Vor diesem Hintergrund muss das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung überdacht und angepasst werden. Die Selbstbestimmung des Einzelnen in der Gestaltung seiner gesellschaftlichen Identität kann vor diesem Hintergrund nicht mehr allein dadurch geschützt werden, dass ihm die Verfügungsmacht über seine persönlichen Angaben gewährleistet wird. Die Zustimmung zur Verwendung von Angaben über die eigene Person ist in dieser Hinsicht kein taugliches Instrument mehr zum Schutz der Privatsphäre.
Der Fokus ist von der Bekanntgabe der privaten Angaben in Richtung des Umgangs mit Daten irgendwelcher Herkunft zu verschieben. Dabei geht es zudem nicht allein um den Umgang mit persönlichkeitsnahen Angaben über den Betroffenen, sondern auch um den Umgang des Staates mit Daten, die weder einen engen Persönlichkeitsbezug noch einen Hinweis auf die Identität des Betroffenen enthalten müssen.
Ins Zentrum des grundrechtlichen Interesses rückt die Verknüpfung, Kombination und Auswertung von Daten überhaupt, unabhängig davon, ob es sich um Daten mit hoher oder geringer Persönlichkeitsnähe handelt. Und dies insbesondere auch mit Bezug auf jene Daten, in deren Erhebung und Bearbeitung die Betroffenen ihre Einwilligung gegeben haben. Dabei ist noch kaum geklärt, welche Massstäbe das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung diesbezüglich setzt. Es ist insbesondere auch die Aufgabe der Rechtswissenschaften, diese Neuorientierung des Grundrechts voranzutreiben.
Markus Schefer ist seit 2001 Professor für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Basel. Nach dem Studium in Bern und einer Vertiefung an der UC Berkeley und an der Georgetown University, Washington, promovierte er an der Universität Bern.