Der Ukraine-Konflikt und das Völkerrecht
Yannik Sprecher
Im März 2014 nahm Moskau die Krim in die Russische Föderation auf. Dies, nachdem die durch russische Truppen besetzte Halbinsel erst kurz zuvor ihre Unabhängigkeit erklärt hatte. Verstösst diese Annexion gegen internationales Recht? Welche Möglichkeiten haben die Krim und die Ostukraine, um ihr Recht auf Selbstbestimmung auszuüben? Und welche Rolle spielte Russland?
«Ja, die Aufnahme der Krim stellt eine Verletzung des Völkerrechts dar», beantwortet Denise Brühl-Moser, Völkerrechtlerin an der Universität Basel, die Grundsatzfrage. Nicht nur wurden beim Anschluss-Referendum demokratische Grundprinzipien wie das Gewaltverbot oder die Meinungs- und Medienfreiheit verletzt. Auch die eine Woche zuvor erklärte Unabhängigkeit der Krim hatte keine juristische Gültigkeit, und entsprechend verfügte die Regierung in Simferopol auch nicht über die völkerrechtliche Kompetenz, sich Russland anzuschliessen.
«Recht auf Selbstbestimmung bedeutet nicht ein allgemeines Recht auf Sezession», erläutert die Privatdozentin. Ausser bei der Dekolonisation oder der Befreiung von einem Rassenregime sieht das Völkerrecht für Volksgruppen keine Möglichkeit vor, sich von ihrem Mutterstaat abzuspalten.
Vermeintliche Analogie zu Kosovo
Werden durch den Mutterstaat gegen einen Teil der Bevölkerung schwere Menschenrechtsverletzungen begangen, wird in der Völkerrechtslehre die Möglichkeit der sogenannten «abhelfenden Sezession» («remedial secession») diskutiert und breit unterstützt. Dieser Ausnahmefall unterliegt allerdings strengen Kriterien. Als Notrecht muss die Sezession die Ultima Ratio sein, um sich von unzumutbaren Zuständen zu lösen.
Als Reaktion auf die Unterdrückung und Verfolgung der albanischen Minderheit durch das Regime Slobodan Miloševics und den darauf folgenden Krieg konnte sich Kosovo 2008 mit diesem Mittel von Serbien abtrennen. Diese Sezession ist bis heute umstritten, da nicht alle UNO-Staaten sie akzeptieren und der Internationale Gerichtshof die Legitimität der Abspaltung nur indirekt anerkannte.
«Interessant am Fall der Ukraine ist, dass beide Seiten mit dem Völkerrecht argumentierten», so Brühl-Moser. Russland hatte 1999 gegen ein UN- Mandat zur militärischen Intervention in Jugoslawien gestimmt und damit gegen die völkerrechtliche Schutzverantwortung des Staatenbunds verstossen. Dennoch argumentierte der Kreml im Fall der Krim ähnlich. Mithilfe systematischer Falschinformation über ethnisch motivierte Gewalt gegenüber der russischsprachigen Bevölkerungsgruppe wollte er nun selbst eine abhelfende Sezession geltend machen. Zwar registrierte ein UN- Bericht vereinzelte gewaltsame Übergriffe; die stark übertriebenen russischen Medienberichte widerspiegelten jedoch nicht die Realität, die bei Weitem nicht als Grundlage für eine «remedial secession» gelten kann.
Die ukrainische Regierung ihrerseits berief sich auf ihr Recht, sich gegenüber Invasoren zu verteidigen. Die Zugehörigkeit der Streitkräfte ohne Hoheitsabzeichen auf der Krim, «grüne Männchen» genannt, blieb nicht lange verschleiert – es waren russische GRU-Spezialeinheiten. Damit verstiess Russland gegen das UN-Gewaltverbot und verletzte die territoriale Integrität der Ukraine.
Vorbild Jura-Konflikt
Der Anspruch auf Selbstbestimmung muss indes nicht zwingend in einen Wechsel der staatlichen Zugehörigkeit münden. Dies zeigt etwa das Beispiel der innerstaatlichen Sezession des Juras vom Kanton Bern; der Vorgang dauerte jedoch ungleich länger. Schon zu Beginn der Fünfzigerjahre leitete das separatistische «Rassemblement jurassien» erste rechtliche Schritte für die Gründung des Kantons Jura ein. Eine Entschärfung des Konflikts brachte nach anfänglichem Widerstand erst der 1970 verabschiedete Zusatz zur Berner Verfassung, der das Selbstbestimmungsrecht der frankofonen Bevölkerungsteile anerkannte. In einer Kaskade von Abstimmungen konnten die sieben Distrikte des jurassischen Kantonsteils über die eigene Zugehörigkeit abstimmen. 1978 wurde die Bildung eines neuen Kantons Jura durch eine Mehrheit des Schweizer Volkes und durch die Zustimmung aller Kantone demokratisch abgesegnet.
«Im Gegensatz zu diesem demokratischen Prozess war das Referendum auf der Krim eine Farce», sagt Denise Brühl-Moser. Jegliche Massnahmen zur Herauslösung der Krim aus der Ukraine und ihrem Anschluss an Russland stehen im Widerspruch zur ukrainischen Verfassung sowie der der Krim.
Zudem verstiess das Plebiszit gegen die in den Europäischen Menschenrechtskonventionen festgehaltenen Regeln einer allgemeinen, freien, gleichen und geheimen Wahl mit den entsprechenden Rahmenbedingungen der Presse- und Meinungsfreiheit und der internationalen Beobachtung. Genauso fraglich sind die tatsächlichen Absichten der Bevölkerung. Obwohl die Abstimmungsergebnisse sehr deutlich waren, bleiben starke Zweifel an ihrer Aussagekraft.
Keine einfache Lösung in Sicht
Der Grund für diese Bemühungen um eine Sezession der Halbinsel sieht Denise Brühl-Moser in der geopolitischen Relevanz der Krim. Die Region hat nicht nur reiche Erdöl- und Gasvorkommen, sie ist auch Hauptstützpunkt der Schwarzmeerflotte Russlands und sein Zugang zum Schwarzen Meer und dem östlichen Mittelmeer. «An einem Beitritt der Ostukraine zur Russischen Föderation andererseits hat die Grossmacht allein schon wegen der dortigen wirtschaftlichen Situation kein Interesse.»
Wie kann es weitergehen für die Ukraine? «Die Lösung liegt wohl in einem abzuwägenden Grad an Dezentralisierung unter Berücksichtigung der Instrumente des völkerrechtlichen Minderheitenschutzes», erläutert die Privatdozentin. «Die Selbstbestimmung sollte idealerweise innerstaatlich ausgeübt werden.»
Wie im Fall des Kantons Jura bestünde für die Krim und die Ostukraine die einzige juristisch haltbare Möglichkeit auf Selbstbestimmung in einem langwierigen politischen Prozess, dessen Erfolg offen ist. Dies nicht zuletzt, weil die Regierung in Kiew sich vehement gegen eine Föderalisierung ausspricht, da sie die Möglichkeit fürchtet, dass Russland durch seine klandestine Präsenz in der Ostukraine auf die innerstaatliche Politik der Ukraine Einfluss nimmt. In letzter Konsequenz, so Brühl-Moser, gehe es beim Ukraine-Konflikt darum, die Werte einer internationalen Friedensordnung, auf welche sich die Staatengemeinschaft nach dem Zweiten Weltkrieg geeinigt hatte, zu verteidigen.
Dieser Artikel stammt aus UNI NOVA 126 (Oktober 2015).
Denise Brühl-Moser ist Privatdozentin für Öffentliches Recht, Völker-und Europarecht an der Universität Basel. Während eines fünfjährigen Aufenthalts in Kanada konnte sie zunächst den Fall Québec eingehend studieren und lebte während der letzten drei Jahre in Taschkent, Usbekistan, wo sie den Einfluss Russlands auf die ehemalige Sowjetrepublik direkt vor Ort beobachten konnte.