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Rechner der Zukunft (02/2017)

Mit Stammzellen gegen Hirnlähmung

Text: Irène Dietschi

Die Zerebralparese ist eine Körperbehinderung als Folge eines frühkindlichen Hirnschadens. Zur Behandlung dieser Gehirnlähmung erforscht Raphael Guzman in seinem Labor am Departement Biomedizin, das Potenzial von Stammzellen einzusetzen. Der Neurochirurg hofft, betroffenen Kindern künftig schon bei der Geburt helfen zu können.

Raphael Guzman ist Professor für Neurochirurgie und stellvertretender Chefarzt für Neurochirurgie am Universitätsspital Basel.
Raphael Guzman ist Professor für Neurochirurgie und stellvertretender Chefarzt für Neurochirurgie am Universitätsspital Basel.

Jahrzehntelang galt in der Medizin die Lehrmeinung, dass das Nervengewebe des zentralen Nervensystems nicht regenerationsfähig sei. Medizinstudierende lernten: «Der Mensch kommt mit einer bestimmten Anzahl von Nervenzellen zur Welt, und da sich Nervenzellen nicht teilen, gibt es im adulten menschlichen Hirn keine Neurogenese.» Punkt. Doch dieses Dogma begann in den Neunzigerjahren zu kippen. Untersuchungen zeigten damals nämlich, dass auch im erwachsenen Hirn Regionen existieren, in denen Nervenzellen neu gebildet werden. So entstanden Ideen, die regenerative Medizin mit Stammzellen auch aufs Gehirn anzuwenden.

Raphael Guzman hat diese Entwicklung seit seinem Studium hautnah mitverfolgt. Der 46-jährige gebürtige Berner ist heute stellvertretender Chefarzt für Neurochirurgie am Universitätsspital und leitender Arzt am Universitäts-Kinderspital beider Basel, und er hält eine Professur für Kinder-Neurochirurgie an der Universität Basel – derzeit die einzige auf diesem Gebiet schweizweit. Nicht minder wichtig als die klinische Tätigkeit ist seine Forschung: Guzman leitet am Departement Biomedizin ein Forschungslabor, das sich mit Stammzellentherapie bei Zerebralparese beschäftigt.

Therapie kurz nach Geburt

«Allein in der Schweiz kommen jährlich etwa 150 Kinder mit zerebralen Lähmungen zur Welt, zum Beispiel infolge Sauerstoffmangels während der Geburt», erklärt Guzman. Am Universitäts-Kinderspital werden die Betroffenen von einem interdisziplinären Expertenteam behandelt, und dabei werden der Klinik kleine Patienten aus der ganzen Schweiz, Italien und Deutschland zur Evaluation zugewiesen. Guzmans Konzept sieht vor, die Kinder künftig mit autologen, also körpereigenen Stammzellen kurz nach der Geburt zu behandeln. Seine Laborstudien, die vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützt werden, sollen die Grundlage für klinische Studien schaffen.

Als die Neurogenese – die Bildung von neuen Nervenzellen – bei Erwachsenen Mitte der Neunzigerjahre zu einem ernsthaften Forschungsthema wurde, machte Guzman in Bern gerade das Staatsexamen. «In den Neuro-Fächern herrschte gerade Aufbruchsstimmung, und es wurden viele Ideen für therapeutische Ansätze in die Welt gesetzt», erinnert er sich. Er arbeitete damals im Inselspital bei einer der ersten Zelltherapiestudien mit: Bei Parkinsonpatienten wurden dopaminproduzierende neuronale Zellen ins Hirn transplantiert. Danach forschte Guzman zehn Jahre lang an der Stanford University in Kalifornien und war dort an Projekten beteiligt, die das Wissen über die Neuroregeneration mittels neuronalen Stammzellen entscheidend voranbrachten.

Versuch, Zellen zu ersetzen

Die Forschenden kamen dabei zum Beispiel der weissen Hirnsubstanz näher auf die Spur. «Man denkt beim Hirn automatisch zuerst an die Nervenzellen, doch diese benötigen eine grosse Infrastruktur an Supportzellen», erklärt Guzman. Zu ihnen gehören die sogenannten Gliazellen: Als «Stoff» der weissen Substanz bilden sie sozusagen die zweite Garde der Hirnzellen: In ihr verlaufen die Axone, also die Fortsätze der Nervenzellen, welche die Impulse von einer Nervenzelle zur andern transportieren. Um die Axone herum liegt wie ein schützender Wintermantel die Myelinschicht, die von den Oligodendrozyten produziert wird; diese sind essenzielle Supportzellen. «Ohne die Unterstützung der Oligodendrozyten gehen Axone und Nervenzellen zugrunde», erklärt Guzman.

Wird nun Hirngewebe beschädigt, etwa infolge eines Schlaganfalls, versucht der Körper von sich aus, die Zellen durch die Neurogenese zu ersetzen. «Es entstehen neue Oligodendrozyten, egal ob es sich um ein erwachsenes Hirn oder um das eines Neugeborenen handelt», sagt Guzman. Aber: «Diese Neubildung von Oligodendrozyten scheint quantitativ nicht ausreichend zu sein.»

Deshalb begannen Guzman und andere Stammzellforscher, bei diesem Mechanismus der weissen Substanz anzusetzen. Im Labor hatten sie bald Erfolg: «Es zeigte sich: Wenn wir unseren Versuchstieren die Stammzellen in die Halsschlagader spritzen, wandern sie ins Hirngewebe. Und mehr noch – die transplantierten Zellen kurbeln die körpereigenen Reparaturmechanismen an. Das heisst, das beschädigte Hirn beginnt selbst, in grosser Zahl neue Zellen zu produzieren, insbesondere myelinbildende Oligodendrozyten.» Die Tiere, denen man zuvor einen Hirnschlag induziert hatte, verbesserten nach der Stammzellenbehandlung zusehends ihre Körperfunktionen.

Körpereigene Reparatur stimulieren

Diese Erkenntnisse führten zu einem neuen therapeutischen Konzept: Man kam weg von der Idee, Zellen zu «ersetzen», wie etwa bei den ersten Parkinsonstudien. Stattdessen sollten transplantierte Stammzellen die körpereigenen Reparaturmechanismen wie die Neurogenese stimulieren. «From cell replacement to trophic support», titelte Guzman ein Editorial, das er in einer Fachzeitschrift über diesen Paradigmenwechsel veröffentlichte.

In seiner laufenden Forschungsarbeit in Basel will der Wissenschaftler mit seinem Team die zellbiologischen Erkenntnisse vertiefen. «Wir wollen zum Beispiel herausfinden, welche Proteine für den Regenerationsprozess verantwortlich sind», sagt der Neurochirurg. Um aus den praktisch unbegrenzten Möglichkeiten schnelle Erkenntnisse zu gewinnen, arbeitet Guzman eng mit internationalen und lokalen Forschungsgruppen zusammen, so in Basel mit dem Neonatologen Sven Wellmann.

Therapie als Ziel

Dabei stellt sich die Frage: Ist es zwingend nötig, die zellulären Mechanismen bis ins letzte Detail zu verstehen, um das Konzept beim Menschen zu erproben – zumal es im Tierversuch zu funktionieren scheint? «Eine schwierige Frage, auch aus ethischer Sicht», antwortet Guzman. Man müsse sehr sorgfältig abwägen, ob und wann für eine klinische Anwendung genügend Wissen vorhanden sei. Gleichzeitig hält er das Anliegen für berechtigt: «Bevor man bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag im Labor die Grundlagen erforscht, muss es einen Zwischenweg geben, um innert vernünftiger Frist zum Patienten zu gelangen.»

Was die Stammzellentherapie bei Zerebralparese betrifft, so scheint diese «vernünftige Frist» bereits in Reichweite zu sein. «Ein Kollege der University of Texas bereitet zurzeit eine multizentrische klinische Studie vor, deren Protokoll wir in Basel wahrscheinlich übernehmen können», sagt Guzman – vorausgesetzt natürlich, die Studie schafft die Hürde bei Swissmedic und der Ethikkommission. Dann könne man hoffentlich in zwei, drei Jahren mit der Behandlung starten.

Natürlich sei er auch als Arzt interessiert, klinische Studien voranzutreiben. «Ich sehe ja diese Kinder in der Sprechstunde, und ich bekomme ihre motorischen und zum Teil kognitiven Entwicklungsrückstände von Nahem mit. Das tut weh.» Seine Forschung, die vor allem im Labor stattfindet, sei am Ende Mittel zum Zweck, sagt Guzman. «Das Ziel ist eine Therapie – damit sich Kinder, die einen ungünstigen Start ins Leben haben, vielleicht besser entwickeln können.»


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