Medien und soziale Bewegungen.
Text: David Hermann
Der Politikwissenschaftler und Nahostspezialist Ali Sonay von der Universität Basel forscht zu aktuellen Entwicklungen in Ägypten, Marokko, der Türkei und Tunesien – und darüber, welche Rolle die Medien dabei spielen.
Von Casablanca bis Ankara, von Twitter bis zum Radio: Ein Gespräch mit Ali Sonay gleicht einer Reise durch Nordafrika und den ganzen arabischen Raum bis in die Türkei und quer durch die aktuelle Zeit- und Mediengeschichte. Der wissenschaftliche Mitarbeiter am Fachbereich Nahoststudien untersucht Muster von sozialen Bewegungen und die Rolle der Medien im Mittleren Osten und Nordafrika.
Am Anfang stand für ihn der Arabische Frühling in Ägypten im Jahr 2011, der auf die Proteste in Tunesien folgte. Sonay war damals mit seiner Doktorarbeit mitten drin: Er interessierte sich vor allem für die Bedeutung von Netzwerken zur Mobilisierung und Organisation der Proteste. Er sagt, die Jugendbewegung des 6. April sei bei den Entwicklungen in Ägypten von grosser Bedeutung gewesen. Sie geht zurück auf eine Facebook-Gruppe, die zur Unterstützung eines Arbeiterstreiks schon 2008 gegründet worden war. Nach kurzer Zeit hatte diese Gruppe mehr als 70'000 Unterstützer.
Digitale Mobilisierung
Über das digitale Netz mobilisierte die Facebook- Gruppe Teile der Bevölkerung zu den Protesten gegen das damalige Regime Hosni Mubaraks. Sonay betont aber auch die Bedeutung der Cafés und der Strasse als Orte der Begegnung und des Austauschs: «Hier wuchsen Beziehungen und Ideen, die später über Facebook und Twitter verbreitet wurden.»
Sonays Forschung erhält heute viel Aufmerksamkeit, denn mit dem Fokus auf soziale Bewegungen setzt er einen anderen Schwerpunkt als die etablierte Nahostforschung. Sicherheit und Terrorgefahr, Extremismus, Fundamentalismus und Autoritarismus waren hier jahrelang die bestimmenden Themen, gerieten aber nach den Ereignissen im Arabischen Frühling in den Hintergrund. Das veränderte auch die öffentliche Wahrnehmung: Die Region ist heute – trotz vieler eher negativer Nachrichten – auch mit Themen wie Partizipation, Vielfalt und Demokratie im öffentlichen Diskurs präsent. So schafft die mediale Berichterstattung auch neue Realitäten.
Fehlende Strukturen
In Ägypten hat sich acht Jahre nach dem Arabischen Frühling heute an der Oberfläche wenig geändert: Armut und Arbeitslosigkeit sind immer noch gross. «Das aktuelle Regime von al-Sisi unterdrückt unabhängige Medien, vor allem im Internet, und lässt zum Beispiel grosse Facebook-Gruppen per Gesetz überwachen», beschreibt Sonay die Situation. Trotzdem sei ein Bewusstsein für Demokratie gewachsen. Daraus schöpft der Forscher Hoffnung für Ägypten: «Im Arabischen Frühling waren Pluralismus und Partizipation wichtige Werte. Es ist wohl eine Frage der Zeit, bis die Revolution wieder zum Leben erwacht.»
Es fehlte der Bewegung damals an der nötigen Stabilität, sagt Sonay: «Wenn ein Protest so offen angelegt ist wie die Jugendbewegung des 6. April, mangelt es oft an den nötigen Strukturen, um ihn zu institutionalisieren. Das beobachten wir auch bei anderen sozialen Bewegungen.» In Ägypten sei die Revolution letztlich an der fehlenden Strategie der Akteure gescheitert, sich am formalen politischen Prozess zu beteiligen.
Unterschiedliche Bedingungen
Während seines Postdocs an der Universität Cambridge untersuchte Sonay zeitgenössische Mediendynamiken in Tunesien, der Türkei und Marokko. Er legt Wert auf eine differenzierte Betrachtung des arabischen Raums. Es sei zum Beispiel falsch, aus den Entwicklungen in Ägypten Rückschlüsse auf die ganze Region zu ziehen: «Jedes Land hat andere wirtschaftliche, gesellschaftliche und mediale Rahmenbedingungen, und das verändert auch die sozialen Bewegungen.»
In Marokko antizipiere das Königshaus immer wieder geschickt veränderte gesellschaftliche Entwicklungen und tausche als Reaktion darauf zum Beispiel den Premierminister aus. So bleibe der König im Hintergrund, und nur die Politiker müssten die ganze Kritik einstecken. Trotz repressivem System mit stark eingeschränkter Pressefreiheit gilt das Land als stabil und geniesst ein positives Image. «Dabei wurde etwa eine italienische Überwachungsfirma engagiert, und mit gezielten Angriffen wurden die unabhängigen marokkanischen Onlinemedien geschwächt», sagt Sonay.
In Tunesien zeigt sich ein leicht anderes Bild: Nach der Jasmin-Revolution von 2010 und 2011 entstanden zahlreiche private Medien. Einige gehören heute wichtigen Wirtschaftsvertretern mit grosser Nähe zu den politischen Entscheidungsträgern. Trotz dieser Verflechtungen gelten die Medien als relativ frei. Zeitungen, Radio- und TV-Sender bestimmen hier, wie im ganzen arabischen Raum, die öffentliche Debatte. Diese sei von einer grossen Angst vor syrischen oder jemenitischen Zuständen im eigenen Land geprägt. Staats- oder regierungskritische Stimmen würden mit Verweis auf solche katastrophale Alternativen stumm gestellt. Auch auf den transnationalen Fernsehsendern Al Arabiya und Al Jazeera sind diese Konflikte sehr präsent.
«Trotz einer unruhigen Region und weiterhin hoher Arbeitslosigkeit und Armut bleibt das Land stabil. Das ist das erfolgreichste Ergebnis der Ereignisse von 2011», betont Sonay, «und es stellt auch eine Frucht der breit abgestützten Demokratiebewegung dar». Denn anders als in Ägypten folgte nach dem Sturz von Präsident Ben Ali in Tunesien ein politischer Aufbau demokratischer Strukturen, der grosse Teile der Zivilgesellschaft integrierte.
Medienfreiheit unter Druck
Mit Blick auf die Dynamik im türkischen Mediensystem stellt Sonay fest: «Viele unabhängige Medienhäuser wurden in letzter Zeit aufgekauft und von regierungsnahen Wirtschaftsführern übernommen. Seither berichten sie immer einseitiger und immer stärker mit nur auf ihre politische Basis zugeschnittenen Argumenten.» Zwar bildet das Internet mit einer aktiven Twitter-Szene und kritischen Blogs ein starkes Korrektiv. Aber, stellt Sonay fest: «Wer gewisse rote Linien überschreitet, muss sich auf Einschüchterungsversuche gefasst machen.»
Der Nahostexperte beobachtet, wie in der breiten türkischen Öffentlichkeit der Wert von Wahrheit, Vielfalt und Offenheit sinkt. Und er sieht dabei deutliche Parallelen zwischen dieser Dynamik in der Nahost-Region und einem globalen Phänomen: «Auch in den USA, Russland und China sind Herrscher an der Macht, die es mit der Wahrheit nicht immer so genau nehmen. Dadurch fühlen sich die Regierungen der Region in ihrem autoritären Verhalten natürlich nochmals bestärkt.»
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