Gegen den Totalitarismus
Text: Manuel Battegay
Mein Buch: Der Infektiologe Manuel Battegay empfiehlt Wassili Grossmans «Leben und Schicksal».
In meinen Sommerferien, versunken in Wassili Grossmans (1905–1964) Epos «Leben und Schicksal», hatte ich nach Stunden fieberhaften Lesens einen eigenartigen Eindruck: Ich meinte, diesen grossartigen Roman gerade in der Originalsprache zu lesen. Dabei kann ich überhaupt kein Russisch! Selten – vielleicht noch nie – hat mich ein Buch so sehr erfasst. Und es begleitet mich seither.
Der Autor zeichnet ein atemberaubendes und zutiefst menschliches Bild der Sowjetunion von 1942 und 1943. Im Mittelpunkt steht die jüdische Familie von Viktor Strum, einem Kernphysiker. Zentral sind die Schlacht um Stalingrad, das zivile Leben und die Vernichtungslager.
Die Erzählperspektive wechselt immer wieder – brillant, schonungslos und realistisch. Denn Grossman war drei Jahre lang Berichterstatter der Roten Armee an der Front. Wenn er die Gespräche russischer Generäle, den Häuserkampf um Stalingrad oder die Atmosphäre im Physikinstitut – wo Intrigen gegen Strum sofort aufhören, als sich Stalin nach ihm erkundigt – beschreibt, löst das beim Lesen ein fast physisches Erleben aus. So der Bericht über das berühmte Haus 6/1 in Stalingrad, das der sowjetischen Frontlinie vorgelagert war – ein Todeskommando für die dort verschanzten Kämpfer. Der charismatische Kommandant wird wahrhaftig, wenn er Güte gegenüber einer jungen Soldatin zeigt, die sich über Befehle hinwegsetzt.
Grossman schildert erschütternd den Holocaust mit dem qualvollen Tod der jüdischen Opfer in den Nazi-Gaskammern aus der Innenperspektive. Dabei gibt er den Ermordeten eine Stimme der Hoffnung bis zum Tod. Grossman war in der Sowjetunion zunächst ein linientreuer Schriftsteller. Er unterschrieb 1937 einen feigen Aufruf, Regimegegner zum Tod zu verurteilen. Durch die Kriegserfahrungen gezeichnet, wurde er danach selber zum Feind des Totalitarismus.
«Leben heisst für den Menschen: Frei sein», schrieb er. «Leben und Schicksal» wurde 1961 beschlagnahmt, erschien erst 16 Jahre nach Grossmans Tod und gilt seither als Meisterwerk der russischen Literatur. Es ist eine kraftvolle Metapher für Hoffnung und Trost in schlimmsten Zeiten – und damit für das Unerklärliche, das wir mit noch so viel Wissen und Erfahrung nie ganz erfassen können.
Manuel Battegay ist seit 2002 Professor für Infektiologie an der Universität Basel und Chefarzt der Klinik Infektiologie & Spitalhygiene am Universitätsspital Basel. In seiner Arbeit widmen sich er und sein Team vor allem Patientinnen und Patienten mit meist schweren, akuten Infektionen sowie der Spitalhygiene. Seit fast 30 Jahren forscht er über Viren, besonders über die HIV/AIDS-Krankheit.
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