Pflanzen fangen Quecksilber aus der Luft.
Text: Yvonne Vahlensieck
Durch menschliche Aktivitäten gelangt immer mehr Quecksilber in Umlauf. Zum Schutz von Umwelt und Gesundheit ist es wichtig, zu verstehen, wie sich der Schadstoff in Erde, Luft und Wasser verteilt. Dabei scheinen Pflanzen eine Rolle zu spielen.
Mitte der 1950er-Jahre entwickelte die Bevölkerung der japanischen Küstenstadt Minamata plötzlich seltsame Symptome: unkoordinierte Bewegungen, Lähmungen und Sehstörungen. Viele Tausend Menschen starben an der mysteriösen Krankheit. Erst Jahre später stellte sich heraus, dass es sich dabei um eine Quecksilbervergiftung handelte: Das Schwermetall war durch das Abwasser einer Chemiefabrik ins Meer gelangt und hatte sich in toxischer Form in den Fischen angesammelt, von denen sich die Betroffenen hauptsächlich ernährten.
Diese Umweltkatastrophe lenkte das Augenmerk auf die Gefahr, die von Quecksilber ausgeht, wenn es sich in der Nahrungskette anreichert. Besonders gefährdet sind Kleinkinder, Schwangere und stillende Mütter, denn Quecksilber kann die frühe Entwicklung des Nervensystems schädigen.
Weniger Quecksilber freisetzen
Deshalb will die 2013 beschlossene Minamata-Konvention den Eintrag von Quecksilber in die Umwelt in den nächsten Jahrzehnten massiv verringern, etwa durch die Einführung von alternativen Produktionsmethoden in der chemischen Industrie: Denn ein grosser Teil des Quecksilbers – mehrere Tausend Tonnen pro Jahr – gelangt durch menschliche Aktivitäten wie die Herstellung von Kunststoffen und Zement, durch Kohlekraftwerke und das Schürfen von Gold in die Luft.
Laut einem UN-Bericht entweicht damit über vier Mal mehr Quecksilber in die Atmosphäre als durch natürliche Ereignisse wie etwa Vulkanausbrüche. «Die grosse Frage ist nun, ob die Massnahmen der Konvention greifen», sagt Dr. Martin Jiskra vom Departement Umweltwissenschaften der Universität Basel. Denn wichtig sei, dass sich dadurch die Quecksilberkonzentration nicht nur in der Luft, sondern auch in der Nahrungskette verringert. «Hierzu können wir aber nur gute Vorhersagen treffen, wenn wir gute Modelle für die Zirkulation des Quecksilbers haben.» Der Biogeochemiker erforscht diese Prozesse seit vielen Jahren und liefert so die Grundlage für die Optimierung der Modelle.
Doch das ist gar nicht so einfach. Quecksilber zirkuliert in einem komplexen Kreislauf zwischen der Luft, dem Boden und den Gewässern und nimmt dabei verschiedene Formen an: Das durch natürliche oder menschliche Prozesse freigesetzte Schwermetall gelangt zunächst als reines Element in die Atmosphäre. Dort wird es dann durch chemische Reaktionen teilweise in eine wasserlösliche Form umgewandelt. Diese gelangt mit dem Regen ins Meer, wo Mikroorganismen daraus sogenanntes Methylquecksilber herstellen. Diese biologisch aktive, toxische Form akkumuliert sich nach und nach in Fischen und ist für die Gesundheitsschäden verantwortlich.
Vegetation als Quecksilberpumpe
Wie Jiskras Forschungsergebnisse zeigen, wurde jedoch eine wichtige Komponente in diesem Kreislauf bisher vernachlässigt: die Funktion der Vegetation. Zusammen mit CO2 nehmen Pflanzen nämlich über ihre Spaltöffnungen auch reines Quecksilber aus der Luft auf. Obwohl das Schwermetall keine biologische Funktion hat, bauen es die Pflanzen in ihre Blätter ein. Im Herbst fällt das Laub herunter und verrottet − so kommt das Quecksilber zurück in den Boden und die Gewässer.
«Die Pflanzen funktionieren also wie eine Art Quecksilberpumpe», so Jiskra. Rund zwei Drittel des Quecksilbers wird auf diese Weise aus der Atmosphäre entnommen und nur ein Drittel durch Abregnen in der wasserlöslichen Form. «Dieser noch wenig beachtete Stofffluss verändert die Dynamik der jetzigen Modelle komplett.»
Diese neuen Erkenntnisse waren nur möglich, weil in den analytischen Methoden in den letzten Jahren grosse Fortschritte gemacht wurden. So kommt Quecksilber natürlicherweise in verschiedenen Zusammensetzungen – sogenannten Isotopen − vor, die sich anhand des Gewichts voneinander unterscheiden lassen. «Dies ist wie ein Fingerabdruck. Da Pflanzen bevorzugt die leichtere Form aufnehmen, können wir jetzt nachverfolgen, wie viel Quecksilber die Vegetation aus der Luft entnimmt», sagt Jiskra. Hierzu sammelt der Forscher etwa alle zwei Wochen Luftproben in fünf Messstationen von Finnland bis zum Schauinsland bei Freiburg im Schwarzwald.
Da die Quecksilberkonzentration äusserst gering ist − nur etwa ein Milliardstel Gramm pro Kubikmeter Luft −, muss der Stoff für die Analyse aus sechs Kubikmetern Luft mithilfe von Aktivkohlefiltern eingefangen und aufkonzentriert werden. Mit dieser Methode will Jiskra nun herausfinden, warum die Quecksilberkonzentration in der Atmosphäre bei uns im Winter grösser ist als im Sommer: «Bisher war die Hypothese, dass Kraftwerke für das Heizen im Winter mehr Kohle verbrennen und deshalb mehr Quecksilber in die Luft gelangt.» Erste Messungen zeigen aber, dass die saisonale Schwankung in Wirklichkeit mit der Vegetationsperiode zusammenhängt: Im Sommer wachsen die Pflanzen, nehmen dabei mehr Gase aus der Luft auf und der Anteil an leichtem Quecksilber in der Luft sinkt.
Der Klimawandel hat Folgen
Gute Modelle sind jedoch nicht nur wichtig, um die Wirksamkeit der Minamata-Konvention zu überprüfen. Jiskra hat noch eine andere Motivation für seine Forschung: «Eine sehr wichtige Frage ist, wie sich der Klimawandel und Änderungen in der Landnutzung auf den globalen Quecksilberkreislauf auswirken. Dies findet im Moment noch wenig Beachtung.»
Wie Jiskra als Postdoktorand in Alaska herausgefunden hat, spielt auch hier die Vegetation eine grosse Rolle. In der arktischen Tundra haben Pflanzen in den letzten Jahrhunderten ständig Quecksilber aufgenommen, das dann durch den Permafrost in der Erde gebunden war. Jetzt deutet sich an, dass die gefrorenen Böden wieder auftauen und grosse Mengen an Quecksilber freisetzen, das schliesslich im Meer landet – mit möglicherweise schlimmen Konsequenzen für die Gesundheit der regionalen Bevölkerung, die ihre Nahrung grösstenteils aus dem Wasser bezieht.
Mit seinem neuesten Projekt möchte Jiskra deshalb die Wissenslücken über den Quecksilberkreislauf weiter schliessen: «Bisher schaute man in Messungen hauptsächlich den Boden an. Wir wollen nun die gesamte Vegetation mit einbeziehen.» Dafür greifen Jiskra und sein Team auf Messtechniken zurück, die Klimaforschende in den letzten Jahren für Treibhausgase wie CO2 und Methan entwickelt haben.
Eine an Quecksilber angepasste Pilotanlage liefert auf einer Wiese im Kanton Zug schon vielversprechende Ergebnisse in Echtzeit: Das Gerät misst mehrere Male pro Sekunde die Windrichtung und die Windstärke sowie die Quecksilberkonzentration in der Luft. Fest über den Baumwipfeln installiert, sollen solche Geräte in Zukunft darüber Auskunft geben, wie viel Quecksilber vom Wald aufgenommen wird.
«Wir brechen die Prozesse in kleine Steinchen herunter und setzen sie dann wie ein Mosaik zu einem Gesamtbild zusammen», so Jiskra. «Dann können wir den ganzen komplexen Quecksilberkreislauf bis zur Anreicherung in den Fischen verstehen.»
Weitere Artikel in der aktuellen Ausgabe von UNI NOVA.