Vorbilder im Konfliktfeld.
Text: Pascale Hofmeier
Auseinandersetzungen und Diskussionen gehören zum Familienalltag. Zum Problem werden sie, wenn sie chronisch destruktiv sind. Das sehen Dr. Letizia Gauck und ihre Mitarbeitenden täglich in der Familienberatung am Zentrum für Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie.
Björn (7)* ist ein Lausbub. Er ist sehr aktiv und spielt fürs Leben gerne Streiche. Einmal kippt er Wasser in den Schulrucksack eines Klassenkameraden. Für die Mutter ist das kein harmloser Unfug mehr. «Nicht so schlimm», findet hingegen der Vater, er sei halt ein Junge. In der Familie sind die Probleme so belastend, dass die Eltern sich Hilfe am Zentrum für Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie ZEPP der Universität Basel suchten – wie im vergangenen Jahr rund 150 weitere Familien.
«Im Fall von Björn ist aus dem Verhalten des Kindes ein Paarkonflikt entstanden», sagt Dr. Letizia Gauck, die das ZEPP leitet. «Solche Paarkonflikte stehen oft im Zentrum familiärer Konflikte.» Es ist die Schattenseite des Familienalltags: Täglich treffen unterschiedliche Verpflichtungen, Bedürfnisse und Wünsche aufeinander. Manche sind gut vereinbar, oft lassen sich Diskussionen jedoch nicht vermeiden. Anlass für Streit ist bei Paaren meist genügend vorhanden: Kindererziehung, Haushalt, Freizeitgestaltung, Finanzen, störende Gewohnheiten oder die Herkunftsfamilie.
Eine Vielzahl an Streitpunkten
Einige Konfliktthemen sind einkommensabhängig, wie neuste Forschungsresultate aus den USA bestätigen: Ehepartner mit niedrigem Einkommen streiten mehr über Finanzen und Substanzmissbrauch. Ist das Einkommen höher, sind eher die Kommunikation und Haushaltsaufgaben Thema. Und je mehr Dinge eine Familie als Belastung erlebt, desto mehr Konflikte entstehen, sei es durch Arbeitslosigkeit, Schulden oder auch die Massnahmen gegen die Coronavirus-Pandemie.
Auseinandersetzungen zwischen Eltern und Kindern hingegen drehen sich am häufigsten um Medienkonsum, Schule, Hausaufgaben und das Einhalten von Regeln. Ob die Beteiligten allerdings eine Auseinandersetzung wirklich als Konflikt empfinden, ist sehr subjektiv: «Was für die eine Familie ein lebhafter Kommunikationsstil ist, empfindet eine andere Familie als Katastrophe», sagt Gauck.
Anhand der Art der Auseinandersetzung und der begleitenden Emotionen unterscheidet die Psychologie zwischen kritischen, negativen Interaktionen einerseits und konstruktiven Konflikten andererseits. Gelingt es einem Paar – respektive einer Familie –, Konflikte konstruktiv zu bewältigen, findet eine positive Entwicklung statt. «Für eine konstruktive Konfliktbewältigung hilft es, sich emotional zu öffnen. Auch Respekt, aktives Zuhören, Kompromissbereitschaft und eine gute Prise Humor tragen dazu bei», sagt Gauck. Und: «Es braucht mindestens doppelt so viel positives Feedback wie Kritik für einen konstruktiven Umgang.»
Negative Folgen hat insbesondere ein chronisch destruktiver Interaktionsstil, der das Gegenüber abwertet und absichtlich verletzt. «Die Kinder sind Beobachter, die Eltern die Modelle. Die Kinder übernehmen die Strategien der Eltern. Wird jemand laut oder schlägt, sehen das die Kinder und lernen dieses Verhalten», so die Psychologin und Psychotherapeutin.
Auch negative Gefühle zeigen
Das heisst jedoch nicht, dass Eltern sämtliche negativen Emotionen von sich selber und den Kindern fernhalten müssen. «Viele Eltern denken, unangenehme Gefühle und Gedanken dürften nicht sein», sagt Silvia Meyer, Psychologin und Mitarbeiterin am ZEPP. Diese enthalten aber häufig wichtige Informationen: Wut weist darauf hin, dass eine Grenze überschritten wurde, Angst kann die Reaktion auf eine reale Bedrohung sein. «Kinder müssen lernen, diese Emotionen zu erkennen und damit umzugehen», ergänzt Gauck. Halten Eltern diese Gefühle im Familienalltag von ihren Kindern fern, fehlt diesen auch die Möglichkeit, Erfahrungen damit zu sammeln. Das kann später wiederum zu Konflikten führen – ob in der Schule oder dann, wenn sie als Erwachsene eine eigene Familie gründen.
Halten chronisch destruktive Auseinandersetzungen in Familien lange an, kann dies schwerwiegende Folgen haben: Die Kinder zerstrittener Paare werden emotional unsicherer und fühlen sich häufig für den elterlichen Konflikt verantwortlich. Aktuelle Resultate der Universität Wisconsin-Madison zeigen, dass es zu Verhaltensproblemen führen kann, wenn die Kinder während eines Streites vor Ort und selber Thema der Auseinandersetzung sind.
Zusätzlich zu allen Kindern, die belastende Trennungen oder Scheidungen der Eltern erleben, sind schätzungsweise rund 20 Prozent aller Kinder chronisch destruktiven Familieninteraktionen ausgesetzt. «Wir beobachten aber, dass die Art, wie eine Familie mit Konflikten umgeht, keinen Zusammenhang damit hat, ob eine Familie gemeinsam oder getrennt lebt», sagt Silvia Meyer.
Wie aber kommt eine Familie aus einer negativen Spirale wieder heraus? «Das ist sehr individuell und ohne externe Hilfe oft schwierig», erklärt Gauck. «Wir suchen am ZEPP immer eine Lösung, die für das betroffene Familiensystem stimmt. Wichtig sind dabei realistische, erreichbare Ziele.» Im Fall des Lausbuben Björn und seiner Eltern stellte sich in der Beratung heraus, dass der Vater als Kind sehr stark diszipliniert wurde. Bei seinem eigenen Nachwuchs nahm er daher eine Laissez-faire-Haltung ein. Darum reflektiere er nun seine Herkunftsfamilie, so Gauck. Zudem erarbeiten Björns Eltern am ZEPP, welche Grenzen dem Jungen Halt geben und wie sie ihm helfen können, sich selbst besser zu kontrollieren.
Wie dieser Ansatz aus der Verhaltenstherapie kommen in der Beratung am ZEPP auch andere bewährte psychologische Verfahren und, wo notwendig, validierte diagnostische Tests zum Einsatz. Dabei fallen viele Daten an, von denen ein Teil – mit Einverständnis der Beteiligten – auch der Forschung dienen kann.
Konflikte unter Geschwistern
Aktuelle Forschung zeigt, dass sich Geschwister in der frühen Kindheit in der Regel 6 bis 8 Mal pro Stunde in die Haare kriegen, in der späteren Kindheit oder Jugend deutlich seltener. Am häufigsten wird darüber gestritten, wem was gehört, oder darüber, wie zum Beispiel ein Spiel gespielt werden soll. In der mittleren Kindheit verschiebt sich der Fokus: Dann sind die Konfliktthemen unter Geschwistern Provokationen, soziale Aufdringlichkeit und Drohungen.
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