Verschollene Babyjahre.
Text: Fabienne Hübener
Unsere frühesten Kindheitserinnerungen sind verschüttet. Doch es gibt Hinweise, dass sie ein Leben lang gespeichert bleiben. Aber wozu, wenn sie nicht abrufbar sind? Flavio Donato und sein Team verfolgen die Spuren früher Erinnerungen im Gehirn.
Am Anfang war ET. Zumindest in der Erinnerung von Flavio Donato. Aufgeregt wartete er 1986 mit knapp drei Jahren auf die Rückkehr seines grossen Bruders, der ihm nach einem längeren Ausflug stets ein Geschenk mitbrachte. Diesmal zog der Bruder eine kleine Figur aus der Tasche, ET der Ausserirdische. Das ist die früheste Erinnerung des inzwischen 38-jährigen Neurowissenschaftlers, der am Biozentrum der Universität Basel forscht.
Viele Menschen haben eine solche erste Erinnerung an ein besonders emotionales Ereignis im Alter von zwei bis fünf Jahren. Was davor geschah, scheint dagegen wie ausradiert. Forschende sprechen auch von kindlicher Amnesie. «Die Erfahrungen, die wir in der Kindheit machen, können den Rest unseres Lebens beeinflussen», so Donato. «Und doch erinnern wir uns nicht daran. Ich finde das faszinierend.»
Ausgangspunkt für seine Forschung sind zwei wegbereitende Entdeckungen. So stellten Forschungsteams vor rund 20 Jahren fest, dass Kleinkinder, denen aufgrund von Epilepsie eine Hälfte des Gehirns entfernt wurde, trotzdem ein weitgehend normales Leben führen konnten. Das junge Gehirn ist also so plastisch, dass es selbst gravierende Defizite ausgleichen kann. Die zweite Entdeckung wurde 2014 mit dem Nobelpreis für Medizin und Physiologie ausgezeichnet: May-Britt Moser, Edvard Moser und John O’Keefe lokalisierten spezielle Nervenzellen im Gehirn, die eine Landkarte der Umgebung kreieren. Die Forschenden ebneten damit den Weg, um zu verstehen, wie sich Erfahrungen in der Aktivität von Nervenzellverbänden tief im Gehirn niederschlagen.
Sternzellen steuern die Gehirnentwicklung
Die zweite Entdeckung erlebte Flavio Donato hautnah mit, denn er forschte ab 2013 rund sechs Jahre lang im Labor von May-Britt Moser und Edvard Moser im norwegischen Trondheim. Dort deckte er auf, dass sich während der frühen Hirnentwicklung Nervenzellen, die Erinnerungen formen, mit Nervenzellen, die eine Karte der Umgebung formen, austauschen.
Der Austausch sorgt dafür, dass verschiedene Klassen von Nervenzellen in einem geordneten Prozess reifen können. Reguliert wird dieser Reifungsprozess dabei von sogenannten Sternzellen, die in einer für das Gedächtnis wichtigen Drehscheibe zwischen Grosshirnrinde und Hippocampus liegen. Für seine im Fachmagazin Science publizierte Forschung erhielt Donato 2017 den renommierten Eppendorf & Science-Preis für Neurobiologie. 2019 kehrte der Neurowissenschaftler zurück nach Basel und gründete am Biozentrum eine eigene Arbeitsgruppe.
Eine Förderung des Europäischen Forschungsrats mit 1,5 Millionen Euro dient dabei als Starthilfe, um das frühkindliche Gedächtnis am Beispiel von Mäusen weiter zu erforschen. «Mein Plan ist, die Nervenzellen, die in der frühen Entwicklung an der Bildung von Erinnerungen beteiligt sind, mit einer Markierung zu versehen und dann ihren Werdegang zu verfolgen», so Donato.
Künstliche Erinnerung
Wie Erinnerungen im erwachsenen Gehirn entstehen, ist bereits ansatzweise entschlüsselt: Ein Erlebnis aktiviert im Gehirn eine Gruppe von Nervenzellen und hinterlässt dabei eine physiologische Spur in Form eines Netzwerks an neuen Verknüpfungen, auch Engramm genannt. Zusammen ergeben die Abermillionen von Engrammen unser Gedächtnis. Je öfter wir etwas wiederholen, desto stärker werden die Verbindungen zwischen den Nervenzellen dieses Netzwerkes. Aus einem Trampelpfad wird eine Strasse.
Um den Werdegang einer Erinnerung vom sich entwickelnden bis zum erwachsenen Gehirn zu verfolgen, müssen Forschende also zunächst das entsprechende Engramm lokalisieren. Beispielsweise indem sie wenige Tage alte Mäuse Erfahrungen sammeln lassen. So lernen die Tiere etwa, dass ein unangenehmer Ton erklingt, wenn sie sich in einer dunklen Ecke aufhalten. Wie zögerlich oder unbeschwert sich eine Maus Tage oder Wochen später der dunklen Ecke nähert, gibt den Wissenschaftlern Auskunft darüber, wie gut sich das Tier erinnert.
Normalerweise hat eine wenige Tage alte Maus diese unangenehme Erfahrung nach ein bis zwei Tagen schon wieder vergessen. Stimuliert man jedoch künstlich die Nervenzellen, die an der Bildung der Erinnerung beteiligt waren, so zögert die Maus, die dunkle Ecke aufzusuchen. Die Stimulation hat also eine verloren gegangene Erinnerung – das Engramm – wieder aktiviert.
Erstaunlicherweise muss die künstlich aktivierte Nervenzelle nicht einmal integraler Teil des Engramms sein. Die Erinnerung lässt sich auch quasi über einen Seitenpfad auslösen. Solche Forschungsarbeiten aus früheren Studien führten zu der Hypothese, dass die frühesten Erinnerungen auch beim Menschen nicht verloren gehen. Uns ist allerdings normalerweise der Zugriff verwehrt.
Zwei Wege zur Erinnerung
Darauf aufbauend untersuchten Donato und sein Team in den letzten Jahren, ob sich Erinnerungen im frühkindlichen und erwachsenen Gehirn unterschiedlich formen. Tatsächlich scheinen die Prozesse je nach Alter qualitativ und quantitativ verschieden zu sein: So rekrutiert etwa das junge Gehirn andere Nervenzellen und benötigt weniger Reize, bevor eine Erinnerungsspur gelegt wird. «Wir waren erstaunt, zu sehen, wie wenig Informationen junge Mäuse benötigen, um effektiv zu lernen», berichtet der Neurowissenschaftler.
Möglicherweise verarbeitet das Gehirn in einem Jungtier die Information auch anders als in einem erwachsenen Tier. Noch fehlen jedoch wichtige Puzzlesteine, um das Formen von Erinnerungen im jungen Gehirn nachzuvollziehen. «Wir setzen die Steine gerade zusammen und haben bereits überraschende Erkenntnisse gesammelt», so Donato. Bevor er und sein Team damit an die Öff entlichkeit gehen, wollen sie sich der Ergebnisse jedoch hundertprozentig sicher sein. Zurzeit führen sie ausführliche Kontrollversuche durch. Bestätigen sich ihre Befunde, wären sie eine solide Grundlage, um der Spur frühkindlicher Erinnerungen bis ins erwachsene Gehirn zu folgen.
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