Der Geradlinige.
Text: Irène Dietschi
Scott McNeil hat im Sommer 2020 die erste von zwei Stiftungsprofessuren für Nanopharmazie übernommen. Der Umzug in die Schweiz inmitten der Pandemie war abenteuerlich, doch der US-Amerikaner hat Übung in Neuanfängen.
Gegen Ende unseres Treffens fischt Scott McNeil sein Handy aus der Tasche und hält es mir hin. «Das bin ich vor drei Jahren», sagt er, «ein ziemlicher Adrenalin-Junkie». Das Bild auf dem Display zeigt einen Motorradfahrer in Aktion, Vollmontur von Kopf bis Fuss, die schwere Maschine so tief in die Kurve geneigt, dass die Ferse des Mannes haarscharf über den Asphalt schrammt. McNeil lacht. «Das habe ich inzwischen aufgegeben», sagt er. Zum einen hätten sich einige seiner Freunde bei den Motorradrennen bös verletzt. Zum anderen werde er in ein paar Jahren 60. «Ich habe ein Enkelkind, ich habe Verantwortung – ich muss das Leben ruhiger nehmen.»
McNeil sitzt in seinem Büro und macht den Eindruck der Ruhe selbst. Grossgewachsen und athletisch, erklärt der 57-Jährige in bedächtigem Mid-West-Amerikanisch, weshalb er den Job in Basel unbedingt haben wollte: weil diese Professur ihm beträchtliche Forschungsfreiheit gewähre; weil er in dieser Position Grundlagendaten erarbeiten und so in einem «zukunftsweisenden Medizinbereich» etwas aufbauen könne; und weil es ihn und seine Frau einfach unheimlich gereizt habe, in der Schweiz zu leben.
Winzige Partikel, grosse Wirkung
Vor einem Jahr ist Scott McNeil von der Universität Basel auf die erste von zwei Stiftungsprofessuren für Nanopharmazie berufen worden. Diese werden von der Vifor Pharma Gruppe finanziert – eine problematische Konstellation? McNeil schüttelt den Kopf. «Ich bin froh, dass Sie das fragen», sagt er. Vifor könne ihm in seine Forschung nicht reinreden. Dafür habe die Universität mit dem Errichten einer «Firewall» gesorgt.
Scott McNeil bewegt sich seit fast 20 Jahren auf dem Feld der Nanomedizin, in den USA leitete er zuletzt ein Team von über 30 Forscherinnen und Forschern. «Nanomedizin ist zu einem grossen Teil Medikamente-Transport», erklärt er, «das heisst, biologische Kleinstpartikel, Nanopartikel genannt, werden dafür genutzt, um bestimmte Wirkstoffe gezielt in den Körper zu schleusen.»
Doch die Nanomedizin kann viel mehr als «nur» Transportieren: Durch das Verpacken eines Wirkstoffmoleküls in einen Nanopartikel lässt sich die Pharmakokinetik verbessern. Das bedeutet, «dass ein Medikament seine Wirkung länger und gezielter entfaltet», so McNeil. «Gleichzeitig lassen sich unerwünschte Nebenwirkungen reduzieren.»
Das System überlisten
Scott McNeil erläutert dies anhand einer Krankheit, die ihn besonders interessiert: der lysosomalen Speicherkrankheiten (LSK). LSK umfassen eine Gruppe von etwa 45 erblich bedingten Stoffwechselstörungen, denen ein bestimmtes Enzym fehlt. Dadurch werden in den Zellen nicht mehr benötigte Stoffwechselsubstanzen wie Makromoleküle, Lipide oder Nukleinsäuren nicht abgebaut. Diese häufen sich an – und schädigen mit der Zeit Organe, Gewebe und auch das Hirn.
Als Standardtherapie erhalten Betroffene das fehlende Enzym per Infusion zugeführt. Das kann funktionieren – oder auch nicht. «Unser Körper ist sehr gut darin, fremde Substanzen zu erkennen», so McNeil, «und in vielen Fällen identifiziert er das zugeführte Enzym als ‹fremd›, das heisst, es entwickeln sich Antikörper.» Geschieht dies, «erinnern» sich die Immunzellen an das Enzym und neutralisieren es. «50 bis 90 Prozent der Patientinnen und Patienten entwickeln Antikörper gegen dieses Medikament, das sie eigentlich retten sollte.» Die Therapie ist somit für einen Grossteil der Betroffenen wirkungslos. Sie sterben.
McNeils Ansatz ist nun, das Enzym mit einer Art Tarnmantel zu versehen, der aus einem Nanolipid namens Polyethylen-Glycol besteht. «Die Immunzellen, die in den Blutgefässen zirkulieren, können zwar hervorragend Proteine und Enzyme identifizieren, doch bei Lipiden gelingt ihnen dies viel weniger gut. Man kann sich das so vorstellen wie eine nasse Nudel, die hin- und herschlägt: das Immunsystem kriegt sie nicht zu fassen», so der Forscher.
Über die Eigenschaften der Nanolipidhülle können die Forschenden steuern, in welchem Gewebe des Körpers sich die Partikel ansammeln und mit den Membranen der dortigen Zellen verschmelzen. Dabei entlassen sie die Enzyme ins Zellinnere, also dorthin, wo sie aktiv werden sollen.
Nochmals alles auf Anfang
Scott McNeil hat in Basel grosse Pläne – für LSK und für Krebstherapien, an denen er bereits die letzten 15 Jahre geforscht hat. Doch der US-Amerikaner hat nach dem Umzug in die Schweiz «from scratch», also ganz von null angefangen.
Das Labor im Pharmazentrum gibt es erst seit Anfang August 2021 offiziell, seine Forschungsgruppe besteht zu diesem Zeitpunkt aus gerade zwei Personen: einem Postdoktoranden und ihm selbst.
«Ja, unsere Anfänge hier waren etwas abenteuerlich», sagt McNeil und erzählt schmunzelnd, wie er und seine Frau im Juli 2020 in der Schweiz angekommen seien: ohne Bleibe, die Möbel gestrandet in Bremerhaven, ohne Deutschkenntnisse, mitten in der Pandemie. Nach drei Monaten fanden sie in Aarau ein Haus zur Miete. Dort gefalle es ihnen sehr gut, und die Pendelzeit von knapp 40 Minuten nach Basel sei völlig in Ordnung.
Von null anzufangen und sich hochzuarbeiten ist Scott McNeil gewohnt. Er stammt aus einer Arbeiterfamilie im US-Bundesstaat Oregon. «Als Jugendlicher habe ich mich oft geprügelt», erzählt er. Er habe damals viele Fehler gemacht – und daraus gelernt. Mit 20 liess er sich fürs Militär rekrutieren, als «Private» dem niedrigsten Dienstgrad der US-Armee. So sei er zu einem Uni-Stipendium gekommen.
Zwischen Golfkrieg und Labor
McNeil studierte in Oregon Chemie und promovierte in Zellbiologie und Anatomie, anschliessend forschte er drei Jahre als Postdoc auf Hawaii. Parallel dazu machte er militärisch Karriere. Aus «Private McNeil» wurde bald «Officer McNeil», 20 Jahre insgesamt diente er in der US-Armee. 1991 wurde er in den Golfkrieg entsandt.
Als Offizier hat er sich durch unwegsame, fremde Terrains geschlagen, liess sich fürs Training – «und zum Spass!» – unzählige Male mit dem Fallschirm am Rücken aus Flugzeugen fallen und sammelte Erfahrungen im Nahkampf. «Das Militär, die Führungsaufgabe: Es formt den Charakter», sagt er. «Meine Soldaten wussten, dass sie sich zu 100 Prozent auf mich verlassen konnten.»
Fast 20 Jahre ist das her. Doch das Gradlinige, Beharrliche (auf Englisch: tenacity) habe er aus seiner Armeezeit beibehalten und ins akademische Umfeld übertragen. Auch in die neue Aufgabe in Basel. «Mein Hauptziel ist, meine Expertise in der Nanomedizin der nächsten Generation verfügbar zu machen», sagt er. «Ich will sicherstellen, dass die Grundlagenforschung Fahrt aufnimmt und vermehrt in die Klinik gelangt.» Für Scott McNeil ist die Nanomedizin das nächste grosse Ding. Es sei Zeit, sagt er, dass sie bei den Patienten ankomme.
Scott McNeil ist seit dem 1. Juli 2020 Professor für Nanopharmaceutical and Regulatory Sciences an der Universität Basel. Zuvor leitete er das «Nanotechnology Characterization Laboratory» in Frederick, Maryland (USA), eine gemeinsame Institution des National Cancer Institute und der US-Arzneimittelbehörde FDA. McNeil ist verheiratet und Vater von sechs Kindern zwischen 20 und 28 Jahren sowie Grossvater eines Enkelkindes.
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