Schluss mit dem ewigen Wachstum?!
Text: Samuel Schlaefli
Umweltökonom Frank Krysiak und Umweltethiker Andreas Brenner sind sich einig: Unser Wirtschaftssystem muss nachhaltiger werden. Soll man dafür das Wachstumsparadigma über Bord werfen? Je drei Argumente für und gegen eine Postwachstumsökonomie.
Pro
1. Ohne Verzicht keine Nachhaltigkeit
«Die Rede von grünem Wachstum und Kreislaufwirtschaft ist bislang vor allem Politmarketing. Sie versucht die Wählerschaft zu überzeugen, sich schuldfrei an den Ressourcen bedienen zu dürfen. Doch selbst Recycling braucht Ressourcen in Form von Energie. Nicholas Georgescu-Roegen, einer der Begründer der Umweltökonomie, hat sich schon in den 1970er-Jahren mit den biophysikalischen Grenzen unseres Wirtschaftsmodells befasst. Er ist einer der Vordenker des Begriffs ‹Degrowth› und realisierte, dass unendliches Wachstum in einem endlichen System unmöglich ist. Trotzdem fungiert grenzenloses Wachstum bis heute als eine Art kollektive Lebenslüge der Industriewirtschaft. In Wahrheit kann es aber nur in eine Richtung gehen: Wir müssen runter mit dem Konsum! Und mit ‹wir› ist die wohlhabende Bevölkerung reicher Industrienationen gemeint. Das oft genannte Argument, dass der Konsum der Reichen dazu beitragen soll, dass die Armen aufholen können, überzeugt mich nicht. Warum sollte es rund einer Milliarde Menschen, die in bitterer Armut leben, besser gehen, wenn wir mehr konsumieren? Umgekehrt zwingen die reichen Staaten die armen dazu, ihre Wirtschaft zu reinen Ressourcenlieferanten aufzubauen. Die armen Länder verbleiben in der Abhängigkeit und müssen zugleich die Zerstörung ihrer Natur hinnehmen.»
2. Wachstum ohne Gewinn
«In den industrialisierten Staaten trägt Wirtschaftswachstum längst nicht mehr zu einer höheren Lebensqualität bei. Im Gegenteil, indem das Tempo ständig hochgeschraubt wird – und da spielt die Digitalisierung eine wichtige Rolle –, fehlt zunehmend die Musse, nachzudenken und das Leben zu geniessen. Das Marketing schafft einen inhärenten Antrieb, immer mehr besitzen zu wollen und unsere Persönlichkeiten durch Konsum aufzuladen. Der amerikanische Philosoph Michael Sandel zeigt in seinem Werk, dass mittlerweile fast sämtliche Bereiche der Gesellschaft ökonomisiert wurden, darunter das Schul- und das Gesundheitssystem. Selbst die Beschädigung der Natur wird heute im Rahmen eines CO2-Emissionshandels kommerzialisiert.»
3. Gemeinwohl anstelle von Utilitarismus
«Die dem Kapitalismus zugrunde liegende Philosophie des Utilitarismus zielt einseitig auf die materielle Vermehrung. Das Wachstumsparadigma hat in den Hintergrund gedrängt, worauf es im Leben wirklich ankommt, nämlich Sinn statt Quantität. So war ja bereits Aristoteles überzeugt, dass Freundschaft das Leben ausmacht und Menschen politische Wesen sind, die sich in Gemeinschaften engagieren wollen. Viele Menschen streben nach positiven Beziehungen zu anderen und zur Natur. Ein auf ökonomischen Gewinn ausgerichtetes Wirtschaftssystem macht einem die Realisierung eines solchen Lebens nicht gerade leicht. Aber es gibt eine Alternative: eine Weltwirtschaft, die das Gemeinwohl höher wertet als die materielle Bereicherung auf Kosten anderer Menschen oder der Natur.»
Contra
1. Qualitatives Wachstum ist die Lösung
«Postwachstum ist vor allem eine ‹First World›-Idee. Wenn Sie nach Sambia oder Äthiopien gehen, werden Sie wenig Menschen finden, die ein solches befürworten. Rein objektiv betrachtet gibt es noch viele Regionen in der Welt, wo die Wirtschaft quantitativ wachsen muss. Wo Hunger herrscht, braucht es mehr Lebensmittel. Wir müssen aber unbedingt zwischen quantitativem und qualitativem Wachstum unterscheiden. Letzteres ist allein durch die Innovationsfreudigkeit des Menschen limitiert, mit denselben natürlichen Ressourcen mehr menschliches Wohlergehen zu schaffen. Etwa biologisch produziertes Fleisch, für das ich mehr bezahle als für Fleisch aus Massentierhaltung. Wenn ich meinen Fleischkonsum halbiere, aber Fleisch kaufe, das dreimal so teuer ist, entsteht am Ende weiterhin Wachstum; das BIP steigt. Oder bei Handys: Man kann jedes Jahr ein billiges kaufen oder alle fünf Jahre ein teures, stabiles, das auch noch reparaturfähig ist. Letzteres wäre für die meisten ein Mehrwert und würde die Umwelt deutlich weniger belasten. Hinzu kommt: Wir können heute mit erneuerbaren Energien unsere Klimaziele erreichen, selbst wenn der Energieverbrauch steigt. Diese Entkopplung von Ressourceneinsatz und wirtschaftlichem Wachstum müssen wir anerkennen.»
2. Experimentierfreude anstatt Zwang zum Verzicht
«Suffizienz kann ein produktiver Begriff sein, wenn er sinnvoll verwendet wird und Freiwilligkeit beinhaltet. Nicht aber, wenn damit eine erzwungene Askese gemeint ist und der Versuch, den Menschen deutlich zu machen, dass sie ihren Anspruch an Lebensqualität reduzieren müssen. Ich verstehe darunter vielmehr die Einsicht, dass man auf unterschiedliche Weise glücklich werden kann. Wir sehen das im Mobilitätsbereich: Im Kanton Basel-Stadt zum Beispiel besitzen rund 50 Prozent der Haushalte kein Auto mehr und leben gut damit. Wichtig wäre vor allem, dass man den Menschen Möglichkeiten eröffnet, um mit solchen alternativen Lebenskonzepten zu experimentieren. Unsere Forschung zeigt: Ohne Druck und politische Propaganda, einfach nur durch Möglichkeiten, fast kostenfrei mit Alternativen zu experimentieren, ist erstaunlich viel zu holen. Zusätzlich braucht es aber auch politische Massnahmen und Anreize.»
3. Eigennutz bleibt ein wichtiger Treiber für grünes Wachstum
«Die Idee einer Gemeinwohlökonomie ist nicht neu und wurde bereits in ehemaligen Ostblockländern propagiert. Das hat nicht funktioniert. Eigennutz ist für viele eine äusserst starke Motivation. Die Antriebskraft, für sich selbst etwas zu schaffen, sollte man nicht unterschätzen. Es ist deshalb erfolgversprechender, wenn wir diesen Eigennutz in gesellschaftlich nützliche Bahnen lenken, anstatt zu versuchen, davon grundlegend wegzukommen. Auch für grünes Wachstum stecken dort enorme Kräfte.»
Andreas Brenner ist Titularprofessor für Philosophie an der Universität Basel und Professor an der FHNW in Basel. Er forscht zu umwelt- und wirtschaftsethischen Fragen.
Frank Krysiak ist Professor für Umweltökonomie an der Universität Basel. Seine Forschungsschwerpunkte sind Wirkungen von Umweltpolitik und die ökonomische Theorie der Nachhaltigkeit.
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