Das Potenzial ungelesener Bücher.
Text: Dominique Brancher
Mein Buch: Die Literaturwissenschaftlerin Dominique Brancher fragt sich, was es bedeutet, ein Buch zu lesen – oder eben nicht.
Im Japanischen gibt es ein schönes, unübersetzbares Wort: Tsundoku. Es bedeutet, ein Buch zu kaufen, ohne es zu lesen, und dieses auf den Stapel anderer nicht gelesener Bücher zu legen. Ich habe lange unter dieser Gewohnheit gelitten, bis zur Entdeckung von Pierre Bayards Buch Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat. Dieses provokative Lob des Nichtlesens scheint mir auf einer profunden Vorstellung des Lesens zu beruhen.
Ich, die mich als Vierjährige brüstete, meinen ersten Roman gelesen zu haben, fragte mich nun, was es mit dieser falschen Selbstverständlichkeit auf sich hat: ein Buch lesen. Es gibt verschiedene Kategorien «nicht gelesener» Bücher: jene, die man nicht kennt, die, von denen man gehört hat, und die, die man gelesen, aber wieder vergessen hat. Und dann wären da noch die, die man nur durchgeblättert hat.
Aber muss man sich jedes Komma einverleiben, um sich Leser nennen zu dürfen? Dies ist das Sorites-Paradox: Ab wie vielen Körnern hat man einen Sandhaufen? Die Grenze zwischen Lesen und Nichtlesen erweist sich als fliessend, zumal man gebildet sein kann, ohne zu lesen. So reicht es, zu wissen, wie diese unberührten Bücher in der kollektiven Bibliothek – jener, in deren Kultur man lebt – und unserer inneren Bibliothek – jener, die auf eigenen Erfahrungen und Überzeugungen gründet – verortet werden.
Als die Anthropologin Laura Bohannan der westafrikanischen Ethnie der Tiv Hamlet vorstellte, sorgte sie für Empörung und eine unerwartete Lesart: Wie kann der Geist von Hamlets Vater laufen, und ist er ein Zombie? Und warum wartet Hamlets Mutter zwei Monate, bevor sie sich mit dem Bruder (und Mörder) ihres toten Mannes vermählt?
Kurzum, ein Werk existiert vor allem als geistiges Bild, das wir in Worte fassen, um es mit anderen zu teilen, unabhängig davon, ob wir den Text gelesen haben; ihn nicht zu lesen, würde gar ermöglichen, besser in eigenen Worten darüber zu sprechen. Dadurch wird nicht nur das ungelesene Werk verändert, sondern auch der Nichtleser. Dies ist weder Infamie noch Verrat an sich selbst oder an der Kultur, sondern ein enormes Potenzial für die Neuerfindung: Der Leser läuft Gefahr, zum Plagiator zu werden, der Nichtleser zum Schriftsteller.
Ich überlasse es Ihnen, Ihre Schlüsse zu ziehen über die Art, wie ich Bayard nicht gelesen habe. Wie Lord Byron sagte: «Ich lese nie ein Buch, dessen Rezension ich schreiben muss. Man lässt sich dermassen beeinflussen.»
Dominique Brancher ist Professorin für Allgemeine und Ältere französische Literaturwissenschaft an der Universität Basel. Ihr Spezialgebiet ist die Renaissance. Neben der Philologie liegt ihr die Öffnung für historische und kulturelle Anthropologie am Herzen. Sie interessiert sich für die Wechselwirkungen zwischen der Literatur und anderen wissenschaftlichen Disziplinen wie Medizin, Naturwissenschaften und Philosophie.
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