Was ist Geschlecht, Frau Maihofer?
Text: Andrea Maihofer
Heute ist gesellschaftlich akzeptiert, dass es mehr Facetten gibt als männlich oder weiblich. Wie definiert sich, welchem Geschlecht ein Individuum angehört? Antworten aus der Geschlechterforschung.
Im Rahmen der Geschlechterforschung haben sich inzwischen zwei unterschiedliche Schwerpunkte herausgebildet: eine vor allem geistes- und sozialwissenschaftlich sowie eine naturwissenschaftlich orientierte Geschlechterforschung. Beide interagieren kontinuierlich und gehen stellenweise ineinander über.
Aus der Perspektive Ersterer, auf der im Folgenden der Schwerpunkt liegt, ist Geschlecht ein vor allem gesellschaftlich-kulturelles Phänomen. Der Fokus liegt hier insbesondere auf dem jeweils historisch vorherrschenden Verständnis von Geschlecht (Geschlechtsidentität, Geschlechtskörper, Sexualität) und auf den damit einhergehenden Geschlechternormen. Dabei zeigt sich sowohl deren stetiger Wandel als auch, wie verschieden die mit diesen Normen verbundene gesellschaftliche Arbeitsteilung und geschlechtliche Hierarchisierung sind.
Zudem zeigen sich im Laufe der Zeit deutliche Unterschiede in der sozialen Wirkmächtigkeit von Geschlecht. So war in der Frühen Neuzeit die Standeszugehörigkeit bedeutsamer als die Differenzierung des Geschlechts. Die jeweils herrschenden Vorstellungen von Geschlecht, Geschlechterdifferenzen und gesellschaftlicher beziehungsweise familialer Arbeitsteilung sind also keineswegs natürlich. Sie sind vielmehr gesellschaftlich-kulturell bedingt und daher nicht überhistorisch, sondern endlich.
Das heisst allerdings nicht, dass es keine natürlichen körperlichen Unterschiede gibt. Jedoch ist nicht der Penis selbst Ausdruck von Aktivität, männlicher Potenz und Überlegenheit, während ‹da› bei den Frauen ‹nichts ist› und die weiblichen Geschlechtsorgane vor allem passiv beziehungsweise rezeptiv sind. Es sind die Menschen, die die jeweiligen Körperteile bewerten und mit ihnen unterschiedliche normative Vorstellungen von Geschlecht und sexuellen Praxen verbinden.
So sind aufgrund ihrer körperlichen Merkmale als männlich identifizierte Personen nicht von Natur aus aktiv, rational, kriegerisch, zur Politik befähigt und dem weiblichen Geschlecht überlegen und die als weiblich identifizierten Personen nicht per se passiv, emotional, friedliebend und voller Mutterliebe. Dies sind kulturelle Zuschreibungen, die sich in dieser Form erst im 18./19. Jahrhundert, also im Zuge der Etablierung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und der mit ihr verbundenen binärhierarchischen heteropatriarchalen Geschlechterordnung als herrschende Vorstellungen von Geschlecht herausgebildet und verallgemeinert haben.
Dies implizierte für die körperlich als männlich beziehungsweise als weiblich gelesenen Individuen die normative Anforderung, eine intelligible eindeutige und lebenslange männliche oder weibliche Geschlechtsidentität und heterosexuelle Orientierung zu entwickeln, also das, was gegenwärtig als cis-heterosexuelle Geschlechtlichkeit bezeichnet wird. Bis heute drohen einem Individuum, das dem nicht entspricht, gesellschaftliche Diskriminierung und Ausschluss. Dass dem so ist, ist nicht natürlich bedingt, sondern gesellschaftlich und politisch. Dies zeigt sich auch in der sich derzeit zuspitzenden Auseinandersetzung um die zunehmende Pluralisierung von geschlechtlichen und sexuellen Lebensweisen.
Das heisst: Geschlecht heute ist – entsprechend der Historizität und Gesellschaftlichkeit von Geschlecht – die faktisch gelebte Vielfalt von Geschlechtern, Geschlechtskörpern und Sexualitäten. Dies gesellschaftlich und rechtlich anzuerkennen, ist gegenwärtig eine zentrale Aufgabe, geht es doch um die Überwindung jeglicher Form von Diskriminierung.
Andrea Maihofer war ab 2001 Professorin für Geschlechterforschung an der Universität Basel. Dies war die erste Professur ausschliesslich für Geschlechterforschung in der Schweiz, zudem verbunden mit dem Aufbau des Zentrums Gender Studies und der Einführung der Geschlechterforschung als eigenständiges Fach. Ihre Forschungsschwerpunkte sind unter anderem Geschlechtertheorie sowie Wandel und Persistenz von Geschlecht und Geschlechterverhältnissen. 2020 wurde sie emeritiert. Einer ihrer derzeitigen Arbeitsschwerpunkte ist Männlichkeit und Rechtspopulismus, ausserdem schreibt sie an einem Buch zu Virginia Woolf.
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