Was ist Geschlecht, Herr Salzburger?
Text: Walter Salzburger
Heute ist gesellschaftlich akzeptiert, dass es mehr Facetten gibt als männlich oder weiblich. Wie definiert sich, welchem Geschlecht ein Individuum angehört? Antworten aus der Evolutionsbiologie.
In der Biologie wird das Geschlecht eines Individuums über dessen Funktion bei der sexuellen Fortpflanzung definiert – insbesondere über die in der Keimbahn gebildeten Keimzellen (Gameten): Weibchen produzieren vergleichsweise wenige, dafür grosse, nährstoffreiche Keimzellen (Eizellen), während Männchen viele kleine, meist sehr mobile Keimzellen (Spermien) hervorbringen. Die geschlechtliche Fortpflanzung funktioniert dann über das Verschmelzen der Ei- und Spermienzelle.
In den allermeisten Tieren, so auch beim Menschen, werden die Gameten in speziellen Keimdrüsen, den Gonaden, gebildet – den Ovarien bei den Weibchen und den Hoden bei den Männchen. Zudem zeigen viele Arten Unterschiede zwischen den beiden Geschlechtern, die weit über das Vorhandensein von entweder Ovarien oder Hoden hinausgehen, etwa im Körperbau, in Farbmustern oder im Verhalten.
In anderen Arten lassen sich die Geschlechter weniger klar voneinander unterscheiden und oftmals ist eine Abgrenzung gar nicht möglich. So sind ein Grossteil aller Schneckenarten, viele Würmer und die meisten Pflanzen «zwittrig», das heisst, ein einzelnes Individuum produziert beide Typen von Gameten. Passiert deren Bildung «simultan», ist ein Individuum gleichzeitig Weibchen und Männchen und es kann sogar zur Selbstbefruchtung kommen. Bei anderen Arten kommt es zum Geschlechterwechsel. Clownfische zum Beispiel fangen ihr Leben allesamt als Männchen an, zum Weibchen wird später nur, wer lange genug lebt und eine dominante Position in einer Seeanemone besetzt.
Im Tierreich sagt das Geschlecht eines Individuums im Übrigen wenig über dessen Rolle bei der Aufzucht des Nachwuchses aus. Beispielsweise brüten viele Buntbarsche die befruchteten Eier in ihren Mäulern aus und bieten ihrem Nachwuchs auch später noch Unterschlupf in der eigenen Mundhöhle. Je nach Art wird dieses Verhalten des «Maulbrütens» nur von den Weibchen, von beiden Elternteilen oder nur von den Männchen praktiziert. Bei vielen Seepferdchen wiederum nehmen die Männchen die befruchteten Eier in einen bauchseitigen Brutbeutel auf, um diese zu bebrüten.
Schliesslich zeigt uns die Natur, dass auch die Faktoren, welche die Bildung der Gonaden (und somit des Geschlechts) in einem Individuum bestimmen, sehr unterschiedlich und vielfältig sein können: Bei Säugetieren sind es bekanntlich die beiden Geschlechtschromosomen X und Y, die in der Konstellation XX zu Weibchen und als XY zu Männchen führen. Auch bei Vögeln gibt es spezifische Geschlechtschromosomen (W, Z), wobei die Weibchen durch WZ definiert werden und die Männchen durch ZZ. In Reptilien entscheidet vielfach die Umgebungstemperatur, der ein Ei ausgesetzt ist, ob ein Individuum später zu einem Weibchen oder zu einem Männchen wird. Und bei Fischen findet man, je nach Art, so ziemlich alles – von einzelnen geschlechtsbestimmenden Genen bis hin zu Chromosomenabschnitten, von Umgebungstemperatur bis hin zum Sozialverhalten in der Gruppe.
Die Frage, warum die geschlechtliche Fortpflanzung entstand, ist noch nicht restlos geklärt. Eine entscheidende Rolle wird der daraus resultierenden Durchmischung des mütterlichen und des väterlichen Erbmaterials zugesprochen. Dass sich so viele Abstammungslinien ausschliesslich oder überwiegend sexuell fortpflanzen und dies trotz des damit einhergehenden Aufwandes, zeugt jedenfalls von einem evolutionären Erfolgsmodell.
Walter Salzburger ist Professor für Zoologie und Evolutionsbiologie an der Universität Basel. Er erforscht die Evolution von Tieren, ihre Anpassung an die Umgebung und die Entstehung ihrer Vielfalt. Sein besonderes Interesse gilt dabei den Buntbarschen, die er im Tanganjika-See in Afrika erforscht.
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