Was bedeutet die Neutralität für die Schweiz, Herr Goetschel?
Text: Laurent Goetschel
Die Schweizer Neutralität wird hierzulande immer wieder neu verhandelt. Ein Historiker und ein Politikwissenschaftler zeigen auf, wie sich die Rolle der Schweiz in der internationalen Gemeinschaft entwickelt hat und heute darstellt.
Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine ist die Schweizer Neutralität in Verruf geraten, stellvertretend für Teilnahmslosigkeit, Opportunismus und Feigheit zu stehen. Ja schlimmer noch, gewisse Verfechter der Neutralität sehen diese als Vehikel, um ihre pro-russische Haltung in diesem Krieg zu rechtfertigen. Viele Menschen wissen einfach zu wenig über die Neutralität. Andere wiederum missbrauchen sie für ihre eigenen politischen Zwecke.
Die Neutralität ist ein im Völkerrecht verankertes aussenpolitisches Konzept. Sie besteht aus Regeln und deren politischer Handhabung. Ihr rechtlicher Kern sieht vor, dass neutrale Staaten sich nicht an den kriegerischen Handlungen Dritter beteiligen. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein waren Kriege erlaubt und gehörten zum Alltag der internationalen Politik. Neutralität setzte diesbezüglich einen Gegenpunkt. Sie beinhaltet das Recht zum ‹Nicht-Krieg›. Neutrale Staaten erachten die Mitwirkung an Kriegen nicht als geeignet, um ihre aussen- und sicherheitspolitischen Ziele zu erreichen. Neutralität hat jedoch nichts mit Pazifismus zu tun: Werden neutrale Staaten angegriffen, dürfen sie sich verteidigen.
Die Schweiz spricht von ‹bewaffneter Neutralität› und begründet damit auch ihre beträchtlichen Armeeausgaben. Die Neutralität steht auch der Teilnahme an Massnahmen der kollektiven Sicherheit nicht im Wege, also etwa an militärischen Sanktionen der Vereinten Nationen (Uno). Sie greift nur bei Kriegen zwischen Drittländern. Wenn ein ständiges Mitglied des Uno-Sicherheitsrates Krieg führt, legt es die Uno mit seinem Vetorecht zugleich lahm. Dies geschah 2003 mit dem Einmarsch der USA in Irak und im Februar 2022 mit dem Angriff Russlands gegen die Ukraine. Für die Schweiz ist es in solchen Fällen besonders wichtig, den militärischen Kern der Neutralität zu wahren, also weder Truppen noch Waffen ins Konfliktgebiet zu senden.
Unterschiede gibt es jedoch in der Neutralitätspolitik verschiedener Staaten, die für die Glaubwürdigkeit ihrer Neutralität sorgt. Sie können nicht einem Militärbündnis beitreten, weil sie damit Verpflichtungen eingehen würden, die im Kriegsfall denjenigen der Neutralität widersprechen. Ansonsten sind neutrale Länder in der Ausrichtung ihrer Aussenpolitik flexibel. Andere neutrale Staaten wie Irland oder Österreich sind Mitglieder der Europäischen Union und traten der Uno schon viel früher bei als die Schweiz. Neutrale dürfen zudem Wirtschaftssanktionen gegen Kriegsparteien verhängen, selbst wenn diese nicht von der Uno stammen. Die Schweiz tat dies in den 90er-Jahren gegen Serbien sowie kürzlich gegen Russland. Sie muss fallweise abwägen, wie stark sie sich positioniert, um ihre aussenpolitischen Ziele zu erreichen.
Als Ausgleich zur militärischen Abstinenz begünstigt die Neutralität humanitäre Leistungen und die Vermittlung zwischen den Konfliktparteien. Neutrale Staaten sind somit nicht teilnahmslos, sie bringen sich anders ein. Sie sind auch nicht feige, sondern beweisen Mut zur Abweichung und müssen sich dafür politisch rechtfertigen. Solange Kriege geführt werden, obwohl diese angesichts dringender globaler Probleme anachronistisch sind, bleibt Neutralität ein sinnvolles Konzept: Sie gründet im Völkerrecht und priorisiert friedliche Mittel zur Lösung zwischenstaatlicher Konflikte. Neutrale ergänzen die Rolle anderer Länder. Die Schweiz tut dies als Gastgeberin, Schutzmacht und Vermittlerin. Neutrale sind auch prädestiniert, um aktiv an der Weiterentwicklung der internationalen Ordnung mitzuwirken. Hierfür bietet die für 2023/24 anstehende Mitgliedschaft im Uno-Sicherheitsrat der Schweiz eine besonders gute Gelegenheit.
Laurent Goetschel ist Professor für Politikwissenschaft und Direktor der Schweizerischen Friedensstiftung swisspeace. Zudem ist er Mitglied der Kommission für Forschungspartnerschaften mit Entwicklungsländern (KFPE). Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Fragen der Friedens- und Konfliktforschung sowie die Aussenpolitikanalyse.
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