Was bedeutet die Neutralität für die Schweiz, Herr Kreis?
Text: Georg Kreis
Die Schweizer Neutralität wird hierzulande immer wieder neu verhandelt. Ein Historiker und ein Politikwissenschaftler zeigen auf, wie sich die Rolle der Schweiz in der internationalen Gemeinschaft entwickelt hat und heute darstellt.
Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass es zur schweizerischen Neutralität keine fixe Auslegung gibt und dass es ihre Umsetzung situationsbedingt nur im Plural gibt, man also im Grunde von Neutralitäten sprechen müsste. Als Grundprinzip zwar dauernd gegeben, erfährt die Neutralität in der Praxis unterschiedliche Beachtung. Das allgemeine Reden – und Schreiben – über Neutralität bewegt sich tendenziell zwar stets in gleichen Bahnen, ist aber auch bezüglich seiner Intensität Konjunkturen unterworfen.
Die jährlichen ETH-Umfragen zur Neutralität belegen mit ihren permanent hohen Zustimmungswerten, dass die Neutralität ein zentrales Element des kollektiven Schweizer Selbstverständnisses ist. Dabei bleibt offen, was darunter verstanden wird. Es wäre aber keine Lösung, mit einer präzisierenden Neudefinition als «aktiv», «kooperativ», «solidarisch» etc. ein den momentan überwiegenden Bedürfnissen entsprechendes Verständnis festzuschreiben.
Der traditionalistische Blick versucht, die Neutralität möglichst tief in der Vergangenheit anzusiedeln, um ihr so grösstes Gewicht zu verleihen. Frühe Bedeutung erlangte sie im 17. Jahrhundert in den konfessionell geprägten internationalen Auseinandersetzungen des Dreissigjährigen Krieges, die den Zusammenhalt der konfessionell gemischten Eidgenossenschaft bedrohten. Auch später hatte die im Prinzip neutrale Ausrichtung nach aussen stets die Funktion, im Landesinnern keine zusätzlichen Gegensätze aufkommen zu lassen.
Einen wichtigen Meilenstein in der weiteren Entwicklung bildete die Anerkennung der Neutralität 1814/15 durch die Mächte des Wiener Kongresses als «im Interesse Europas» liegend. Die Tatsache, dass die Schweiz in den grossen militärischen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts nicht direkt betroffen war, wird von den Advokaten der Neutralität als Bewährungsbeweis gesehen, obwohl es dafür vor allem im Zweiten Weltkrieg auch andere Gründe gab, etwa ihre Nützlichkeit als Finanzdrehscheibe.
Weil es als vorteilhaft eingestuft wurde, trat die Schweiz 1920 dem multilateralen Völkerbund bei. Und weil es 1945 als den schweizerischen Interessen widersprechend angesehen wurde, blieb sie der Nachfolgeorganisation, der Uno, während Jahrzehnten fern. Bis 2002 dominierte die Meinung, dass eine Mitgliedschaft wegen der Neutralität nicht infrage komme, dann wiederum wurde die Mitgliedschaft unter anderem mit dem Argument befürwortet, dass man die Neutralität innerhalb der Uno besser verteidigen könne als ausserhalb.
Um 1945 startete der Historiker Edgar Bonjour die Ausarbeitung seiner stark beachteten Neutralitätsgeschichte. Obwohl er stets betonte, dass die Neutralität nur ein Mittel und kein Selbstzweck sei, trug sein Werk dazu bei, der Neutralität eine derart zentrale Bedeutung zu geben, dass sie in der öffentlichen Meinung mit der gesamten Aussenpolitik gleichgesetzt wurde. Dabei ging vergessen, dass die Gestaltung der aussenpolitischen Beziehungen abwägende Interessenpolitik war. In der Ära des Kalten Krieges hatte die Schweiz den Status eines westlichen Neutralen. Die Neutralität erlebte eine ideologische Überhöhung, gerade weil die Schweiz realiter Teil eines Blocks war.
Unter Berufung auf Neutralitätspflichten liessen sich die Unabhängigkeit und der helvetische Sonderweg leichter verteidigen – sowie gleichzeitig die hohen Ausgaben für die militärische Landesverteidigung rechtfertigen. Nach der Wende von 1989 ging die Relativierung der Neutralität jedoch vor allem von der Armeeführung aus, weil sie erkannt hat, dass eine Kooperation mit Kräften des Westlagers nötig ist, um die Sicherheit der Schweiz zu gewährleisten. Dies hat der Bundesrat mit dem Zusatz zum Sicherheitsbericht 21 im September 2022 bestätigt.
Georg Kreis ist emeritierter Professor für Neuere Allgemeine Geschichte und Geschichte der Schweiz an der Universität Basel und war Gründungsdirektor des Europainstituts. Er hat zahlreiche Publikationen zur Schweizer Geschichte, über Beziehungen der Schweiz zum Ausland und über Minderheiten verfasst.
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