Kann man mit Krebs noch glücklich sein?
Text: Jan Müller
Eine schwere Erkrankung verändert, wie man das eigene Leben gestalten will und noch kann. Der Philosoph Jan Müller beleuchtet, wie diese neue Realität den Alltag beeinflusst.
Die Diagnose einer lebensbedrohlichen Krankheit konfrontiert Betroffene mit der Frage: «Wie kann ich nicht trotz, sondern mit der Erkrankung gut leben?» Sie stellt sich umso drängender, je mehr Raum das Kranksein einnimmt und es in vielen verschiedenen Hinsichten so viel schwerer macht, glücklich zu leben.
Wenn der eigene Körper fremd wird
Fast alle Betroffenen leiden irgendwann unter Schmerzen. Dann rückt der eigene Körper grell ins Zentrum der Aufmerksamkeit: Was geht gerade mit mir vor? Viele Schmerzen lassen sich zwar lindern; aber sie erschüttern die Selbstverständlichkeit, mit der wir sonst in unserem Körper «zu Hause» sind und uns auf unsere Kräfte verlassen können. Der fortschreitende Krankheitsprozess zwingt dazu, altvertraute, aber auch eben erst mühsam zurückgewonnene Selbstbilder immer wieder anzupassen. Rasch lernt man den «ärztliche Blick» kennen, der wohlwollend, aber objektivierend ist. Er hilft zwar, das subjektive Erleben neu zu rahmen, zu erklären und erträglicher zu machen; aber er birgt zugleich die Gefahr, dass man sich allzu sehr gleichsam wie von aussen anschaut und sich darüber fremd wird.
Ringen um Selbstbestimmung
Zu einem gelingenden Leben gehört, so gut es geht selbstbestimmt zu leben und ein gutes Verhältnis zu dem zu haben, was einem zustösst. Die gewaltigen Veränderungen durch eine Krebserkrankung beschreiben viele Betroffene deshalb als Autonomieverlust: von innen, wenn das eigene Erleben unsicher wird; von aussen, wenn die komplexe interdisziplinäre Maschine der Krebsbehandlung anläuft, deren Prozeduren und Abläufen man sich unterwerfen muss. Ist eine Krebserkrankung unheilbar geworden, werden mit der Zeit die Freiheitsspielräume enger.
Und trotzdem berichten Betroffene, dass in ihren Ohren die Unterscheidung zwischen kurativen (heilenden) und palliativen (lindernden) Behandlungen einen anderen Klang hat: Denn wo nichtbetroffene Personen leicht den «schon verlorenen Kampf» assoziieren, geht es für sie eben um den Vollzug ihres alltäglichen Lebens, um die feste Hoffnung, dass es noch so lange und so gut wie irgend möglich sein möge, selbst wenn Freiheitsgrade sich vermindern.
Es kann eine echte Selbstbefreiung sein, wenn manche Betroffene sich irgendwann entscheiden, auf Behandlungen zu verzichten. Der schmale Grat, auf dem man gemeinsam mit den ärztlichen Fachpersonen immer wieder den therapeutischen Nutzen von Behandlungen gegen die «Lebensqualität» abwägt, besteht aber von Anfang an. Es ist eine ständige Herausforderung, sich die eigene Lage immer wieder gleichsam aneignen zu müssen. Vermeintlich Selbstverständliches wird kostbar: Kontakt und Beziehung zu lieben Menschen; eine befriedigende und erfüllende Arbeit so lange wie möglich ausüben zu können; intellektuelle Herausforderungen, spirituelle und Naturerfahrung; ein schützendes Zuhause.
Fremdgewordene Zeit
Was wird aus meinen Plänen, Hoffnungen und Erwartungen, wenn Lebenszeit plötzlich eine «knappe Ressource» ist? Am Anfang, mit der Diagnose, erlebt man unvermeidlich eine Krise. Wenn man dann in den Alltag zurückfindet, wird die Erkrankung und ihre Behandlung einen ganz entscheidenden Anteil am Rhythmus der Tage und Wochen haben.
Die Krankheit wird «zum Herzschlag meiner Tage», hat eine Betroffene einmal formuliert: Arztbesuche, Medikamente zu bestimmten Zeiten, zyklische Nebenwirkungen … Die Frage «Wie weit reichen meine Kräfte heute?» wird zur ständigen Begleiterin. Man plant Arbeit und Freizeit anders, wenn man damit rechnen muss, dass sich etwa Müdigkeit oder Übelkeit einstellen werden. Eine Freundin sagt: «Ich verabrede mich gern mit dir, aber nur noch unter Vorbehalt.» Solche Unsicherheit braucht Mut.
«Man ist nie völlig allein krank»
Alle diese Aspekte betreffen auch das Verhältnis zu anderen. Je näher die soziale Beziehung, desto mehr gibt es eigentlich keine Nicht-, sondern bestenfalls Weniger-Betroffene, und vieles hängt daran, wie diese Einsicht gelebt wird.
So hat die Perspektive und die Haltung beteiligter Personen grossen Einfluss darauf, wie einfach oder schwer es für Betroffene ist, ihre Situation mitzuteilen und zu gestalten. «Ich muss mich selbst daran erinnern, dass ich mehr bin als die Krankheit», erzählte eine Freundin. «Manchmal muss ich neben meiner eigenen Angst auch die Angst der anderen moderieren, damit ich nicht verschwinde hinter dem Bild, das sie sich von mir machen.»
Daran hängt zuletzt auch, ob es möglich wird, das Leben zu betrauern, das man nicht mehr haben wird: all die Wünsche und Hoffnungen. Das ist für Betroffene etwas radikal anderes als für Weniger-Betroffene. Vielleicht kann man aber gemeinsam darum trauern, dass man je für sich ganz anderes betrauern muss, und in dieser lebendigen, augenblicklich geglückten Verbindung Trost finden.
Jan Müller ist seit 2016 Assistent an der Professur für Praktische Philosophie der Universität Basel und forscht zur Ethik interpersoneller Beziehungen. Mit Krebserkrankungen kam er als einer der «Weniger-Betroffenen» in Berührung.
Weitere Artikel in dieser Ausgabe von UNI NOVA (Mai 2023).