Hirnforscher mit Jazzflöte.
Text: Christoph Dieffenbacher
Philipp Sterzer erforscht, wie das Gehirn arbeitet – in der täglichen Wahrnehmung und bei Psychosen. Sein Herz gehört aber auch der Musik.
Es gibt Zeiten im Leben, in denen sich ganz vieles auf einmal verändert. Am besten hält man sich dann ans Wesentliche und erledigt den Rest nebenher. Als Philipp Sterzer im Frühling 2022 von der Berliner Charité nach Basel wechselte, schien ihm ein fertig ausgestattetes Büro an den Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) wohl nicht besonders wichtig.
Es gab anderes zu tun: Die Klinik für Erwachsene sollte teilweise neu ausgerichtet, Forschung und Versorgung der Patientinnen und Patienten sollten stärker aufeinander abgestimmt werden.
Voll gestellt mit Schachteln, Möbeln und halb eingeräumten Regalen, macht der kleine Büroraum mit Ausblick auf das parkähnliche Klinikgelände noch immer einen etwas improvisierten Eindruck. Weder persönliche Gegenstände sind zu sehen, noch hängen Bilder an den Wänden. Sterzer bemerkt entschuldigend, dass er hier erst provisorisch eingerichtet sei. Mit etwas Distanz hat er sich an den Besprechungstisch gesetzt: sportlich, gross gewachsen, breites und offenes Gesicht, Haar und Bart in unterschiedlichen Grautönen.
Ruhig, aber engagiert erzählt der 53-jährige Psychiatrieprofessor und Chefarzt von seiner Forschung. Neben Lehre und Klinik macht sie einen grossen Teil seiner Arbeit aus: «Ich finde es faszinierend, mit empirischen Daten zu arbeiten, aus denen ich konkrete Aussagen ableiten kann.» Auch den kollegialen Austausch mag er, die Fachdiskussionen in Basel oder im Ausland. Eben bereitet er sich auf einen Vortrag mit Klinikbesuch in Deutschland vor. Patientinnen und Patienten betreue er derzeit wenig, was er aber ändern möchte. Jetzt ist er vor allem bei schwierigen Fällen gefragt, etwa wenn jemand suizidale Gedanken äussert und es Entscheide über die Behandlung zu treffen gilt.
Was sich das Gehirn zusammenreimt
Sterzer will verstehen, wie unser Gehirn arbeitet, das fast pausenlos Veränderungen ausgeliefert ist. Innert Sekundenbruchteilen muss das Organ die eintreffenden Sinneseindrücke verarbeiten und darauf reagieren. Wie es das schafft, hatte ihn in seinen ersten Jahren als Grundlagenforscher in München und Berlin interessiert: Wie funktioniert die bewusste Wahrnehmung? Auf welche Weise selektieren wir bestimmte Reize? Und wie konstruiert unser Gehirn die Welt, wie wir sie sehen?
Zur Illustration erzählt er ein Beispiel: «Ich fahre auf dem Velo eine Strasse hinunter, sehe aus dem linken Augenwinkel eine Bewegung und weiss zunächst nicht: Ist das ein einbiegender Lastwagen oder ein Plakat, das an einer Wand flattert?» Da müsse man sich unmittelbar entscheiden: Sofort abbremsen oder weiterfahren? «In einer solchen unsicheren Wahrnehmungswelt leben wir dauernd», erklärt Sterzer, «und unser Gehirn hat sich auf wechselnde Impulse immer wieder einen neuen Reim zu machen.»
Klar, dass es da auch zu Fehlern und Störungen kommen kann. Das zeigen beispielsweise optische Täuschungen. Sterzer sagt: «Wir meinen, rationaler zu sein, als wir tatsächlich sind.» Deshalb sollten wir unserem Bild der Welt nicht allzu fest trauen. Seit einiger Zeit befasst er sich mit weitergehenden Fragen: Was, wenn die Wahrnehmung pathologisch verändert ist? Wenn Menschen in einem Wahn oder mit Halluzinationen den Kontakt zur Realität verlieren? «Die Wirklichkeit von psychisch kranken Menschen kann komplett anders aussehen als unsere», stellt Sterzer fest. Trotzdem: Die Grenzen zwischen sogenannter Normalität und Krankheit seien fliessend.
Das Gehirn spielt uns Streiche
In einem Experiment wollte er etwa wissen, wann wir wandernde Punkte als eine ganze Wolke wahrnehmen, die sich bewegt. Sterzers wissenschaftliche Arbeit, die auch bildgebende Verfahren wie MRT und Elektroenzephalografie einbezieht, findet Anerkennung: Für UPK-Direktorin Undine Lang ist er «ein Top-Forscher, der das Fach Psychiatrie wissenschaftlich wirklich weiterbringt».
Er habe neuronale Mechanismen identifiziert, deren Störung die Grundlage von Psychosen sein könnten, ergänzt sein früherer Arbeitskollege Andreas Kleinschmidt, Leiter des Neurocenters der Universität Genf.
Nicht nur Fachleuten, auch einem grösseren Publikum kann Sterzer anschaulich erklären, was im Kopf genau passiert. Erfolgreich war sein Buch «Die Illusion der Vernunft» (2022), in dem er beschrieb, wie uns das Gehirn in die Irre führen und unsere festen Überzeugungen prägen kann. In «29 Fenster zum Gehirn» (2013), das er mit einem Kollegen verfasste, stellte er jungen Leserinnen und Lesern knapp und griffig Experimente und Theorien vor – über Wahrnehmung, Bewegung, Sprache, Liebe und Erinnerung.
Obwohl es harte Arbeit ist, mache ihm das Schreiben grossen Spass, sagt er. Mit seinen Büchern, die auch Ausflüge in Philosophie, Evolutionsbiologie und Soziologie unternehmen, möchte Sterzer seine Forschung verständlich machen – aber auch dazu beitragen, dass psychische Krankheiten gesellschaftlich weniger stigmatisiert werden.
Als Musiker auf einem Segelschiff
Eine Karriere als Wissenschaftler und Psychiater stand für ihn nicht von vornherein fest. Zu Beginn seines Medizinstudiums habe er sich beinahe für die Musik entschieden. Schon als Schüler hatte er in einer Band mit dem bezeichnenden Namen «Mind Games» leidenschaftlich Querflöte gespielt. «Doch damals meinte ich, nicht genial genug für eine Musikerkarriere zu sein.» Bereut hat er den eingeschlagenen Weg aber nicht.
Noch immer tritt er regelmässig mit den gleichen beiden Kollegen wie damals auf. So spielte er schon in einem Kinderzirkus, später mit einem Quartett auf einem Segelschiff im Mittelmeer und im April an einem Jazzfestival im Friaul.
Die Querflöte kommt seit dem Wechsel nach Basel allerdings etwas weniger zum Einsatz. Auch für ein weiteres Buch fehlt im Moment die Zeit. Dafür liegt vielleicht die eine oder andere Wochenendtour in die Berge drin, die ihn an seine Kindheit in Oberbayern erinnern. An den neuen Wohnort ist ihm ein Teil der Familie gefolgt: Während die beiden erwachsenen Kinder in Berlin blieben, leben seine Frau und sein jüngster Sohn, ein Nachzügler, mit ihm in Basel. Alle drei fühlen sich wohl in der Stadt. Die Zeit, in der sich ganz vieles auf einmal verändert, dürfte Sterzer fürs Erste wohl hinter sich haben.
Philipp Sterzer ist seit Mai 2022 Professor für Translationale Psychiatrie und Chefarzt an den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel. Geboren 1970 und aufgewachsen in Rosenheim (Bayern), studierte er Medizin an der Universität München und der Harvard Medical School in Boston. Nach der Promotion und der Habilitation in Experimenteller Psychiatrie an der Humboldt-Universität zu Berlin forschte er an der Charité, unter anderem zur Hirnbildgebung und zur Computermodellierung von Psychosen.
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