Verborgenes Netzwerk.
Text: Noëmi Kern
Im Unterschied zu den Naturwissenschaften sind in den Geisteswissenschaften viele Daten nur analog verfügbar. Die Digital Humanities ändern dies und ermöglichen so neue Fragestellungen.
Die Aufzeichnungen der Britisch-Schweizerischen Handelskammer sind eine Fundgrube: Insgesamt über 3000 Akteure, die mit mehr als 1400 Konsumgütern handelten – von Lederhandschuhen über Gummiräder bis zu Metall –, sind in den Akten aufgeführt.
Die Organisation stand allen Unternehmen offen, die Handel zwischen der Schweiz und Grossbritannien trieben, unabhängig von der Branche. Die Handelskammer unterstützte die Firmen, indem sie etwa wirtschaftliche Interessen gegenüber der Politik vertrat und als Informationsvermittlerin fungierte. Gegründet wurde die British Chamber of Commerce for Switzerland (BSCC) 1920 in Basel mit dem Ziel, nach Ende des Ersten Weltkriegs die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Die Organisation gibt es bis heute.
Lea Kasper wertet das Quellenmaterial aus, das sich seit 2021 im Schweizerischen Wirtschaftsarchiv befindet. In den Fokus nimmt die Doktorandin am Europainstitut der Universität Basel dabei die Jahre 1920 bis 1950, also die Zeit nach der Gründung der BSCC bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie will ergründen, wie sich die Handelskammer in diesen Krisenzeiten entwickelte und nimmt unter anderem deren Mitgliederzahlen in den Blick (vgl. Grafik). «Der Krieg hatte natürlich Auswirkungen auf die Handelsbeziehungen. Die Unternehmen waren zwar in der Schweiz oder Grossbritannien ansässig, unterhielten aber Geschäftsbeziehungen weltweit. Diese Daten sind Teil der internationalen Wirtschaftsgeschichte.» Dass kleinere und grössere Unternehmen aus unterschiedlichen Branchen in der BSCC vertreten waren, ermöglicht ein umfassenderes Bild, als wenn das Archiv eines bestimmten Unternehmens durchstöbert würde, das den Fokus naturgemäss auf die eigene Firmengeschichte legt.
Lea Kasper richtet den Blick insbesondere auf den Rohstoff- und Metallhandel, da dieser krisenresistenter ist als der Handel mit Luxusartikeln. Ein Grossteil des weltweiten Rohstoffhandels wurde über die Schweiz abgewickelt. Mit dem Warenhandel eng verknüpft waren einerseits Dienstleistungen, andererseits gab es Akteure, die zwischen einzelnen Firmen vermittelten. So entstand ein Netzwerk, das sich anhand der Aufzeichnungen der BSCC nachvollziehen lässt. Diese führte Buch über die Mitglieder und deren Tätigkeiten. In den Mitgliederlisten sind Firmennamen, Adressen, Sitz, gehandelte Güter und Handelsverbindungen erfasst. Dadurch finden sich auch Firmen in den Akten, die selber nicht Mitglied der BSCC waren.
Ohne Technik keine Aussage
So geben die Auflistungen Aufschluss über ein weltumspannendes Netzwerk. Zumindest theoretisch, denn von Hand lässt sich dieses nicht aufzeichnen. Dazu braucht es eine spezielle digitale Forschungsumgebung, die sich Lea Kasper durch das Doc.CH-Stipendium des Schweizerischen Nationalfonds selber aussuchen konnte. Das Europainstitut bietet besonders gute Voraussetzungen für Digital-Humanities-Projekte sowie Kooperationsmöglichkeiten mit innovativen Nachwuchsforschenden.
Die Disziplin der Digital Humanities schlägt die Brücke zwischen Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften und digitalen Technologien. Unterstützt von RISE, dem Beratungs- und Kompetenzzentrum für digitale Projekte der Universität Basel, ist Kasper nun daran, umfangreiche Datensätze zu erfassen, auszuwerten und neue Technologien zu entwickeln und zu verbessern.
Das erlaubt Antworten auf Fragestellungen, die ohne Digitalisierung nicht möglich wären. Zum Beispiel kategorisiert die Maschine die einzelnen Elemente der Mitgliedereinträge (Firmenname und -sitz, gehandelte Güter etc.) und versieht sie mit Tags. Das erlaubt später verschiedene Suchabfragen – je nach Filter. «Selber die Mitgliederlisten auszuzählen und nachzuvollziehen, wie lange ein Unternehmen in der Handelskammer Mitglied war und wie sich die Tätigkeiten und Beziehungen in dieser Zeit möglicherweise verändert haben, wäre nicht zu bewerkstelligen gewesen», so Lea Kasper. Anders gesagt: Früher hätte sich aus dem Quellenmaterial der BSCC nie ein ganzes Bild ergeben. Nun reicht eine Suchabfrage, um sich die Auswertung der Daten anzeigen zu lassen.
Die Maschine braucht Hilfe
Das klingt simpler, als es ist. Damit die Forschenden zuverlässige Resultate erhalten, war eine Menge Vorarbeit nötig. «Man muss die Maschine so trainieren, dass sie die Quellen richtig liest. Wenn Daten falsch oder unvollständig erfasst werden, kann das weitreichende Folgen bei der Auswertung haben», erläutert die Wissenschaftlerin.
So musste sie vorgängig zum Beispiel definieren, dass die Maschine das Element Mrs. als Frau interpretieren soll, und ihr beibringen, was bestimmte Zeichen in den Einträgen bedeuten. Auch bei der Bezeichnung von Orten aufgrund ihrer Koordinaten muss die Forscherin nachhelfen: «Manche Ortsnamen haben sich im Laufe der Zeit geändert. Um das nachzuvollziehen, braucht es ein historisches Verständnis, das der Maschine fehlt.»
Mensch und Maschine arbeiten also Hand in Hand, wo sie alleine nicht weiterkämen. «Es braucht einerseits das Vertrauen in die Fähigkeiten der Technik und andererseits ein Verständnis dafür, wo sie an Grenzen stösst», gibt Lea Kasper zu bedenken.
Datenfriedhof vermeiden
Ein Ergebnis, das auf Basis der maschinell erfassten Daten zustande kommt, müsse sowohl nachvollziehbar und langzeitgespeichert als auch reproduzierbar sein, betont Lea Kasper. Entsprechend stellt sich auch die Frage nach der Darstellung der digitalisieren Rohdaten. Im Falle der BSCC hat sich das interdisziplinäre Team dazu entschieden, dass bei den einzeln erfassten Einträgen im Mitgliederverzeichnis ein Bild der Originalquelle angezeigt wird; als Beleg ohne jegliche Interpretation.
Sowohl die Daten als auch die digitale Infrastruktur sind künftig für alle zugänglich, die sie nutzen wollen – weltweit. Es gilt, die Quellen nicht nur korrekt, sondern auch ganzheitlich zu erfassen und für spätere Fragestellungen nutzbar zu machen. Denkbar wäre, Lebensläufe von verzeichneten Personen zu erstellen, die Netzwerke einzelner Akteure nachzuvollziehen oder die Entwicklung bestimmter Firmen im Laufe der Zeit zu beleuchten. Die technischen und methodischen Fragestellungen des Projekts faszinieren Lea Kasper nicht weniger als die inhaltlichen. Das strukturierte, regelbasierte Vorgehen und der interdisziplinäre Austausch sagen ihr zu. Dass die aufwendig erfassten Daten nicht ausgedient haben, wenn sie ihre Dissertation dereinst abgeschlossen hat, findet sie «etwas vom Schönsten am digitalen Arbeiten».
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