«Für gute Forschung braucht es den Mut, schwierige Fragen zu stellen.»
Prof. Dr. Primo Schär ist seit August Vizerektor Forschung der Universität Basel. Nach 100 Tagen im Amt erzählt der Biomediziner, was er unter guter Forschung versteht und welche Schwerpunkte er in seiner Amtszeit setzen will.
14. November 2024 | Reto Caluori, Noëmi Kern
Herr Schär, Sie sind seit 100 Tagen Vizerektor Forschung. Wie haben Sie den Übergang vom Dekan der Medizinischen Fakultät zum Vizerektor erlebt?
Primo Schär: Der Wechsel war schon heftig, im positiven Sinne. Die Medizin ist ja auch nicht klein, aber doch ein eher fokussierter Bereich. Mit dem Eintritt ins Rektorat hat sich mir die ganze Breite der Volluniversität eröffnet. Nach eben diesen 100 Tagen kann ich sagen, dass diese Öffnung in die anderen Bereiche für mich schon jetzt eine spannende Bereicherung darstellt.
Sie haben die Breite der Volluniversität angesprochen. Wie nehmen Sie die einzelnen Fakultäten wahr?
Ich habe schnell gemerkt, dass ich stark von Medizin und Life Sciences geprägt bin und über die anderen noch viel lernen muss. Ich spüre, dass die Kulturen sehr unterschiedlich sind – etwa in Bezug auf den Dialog und die Diskussionen, die man führt. Das war bei uns relativ kurz und knapp. In anderen Bereichen ist das ausführlicher, aber nicht weniger spannend.
Bei allen Unterschieden gibt es auch Gemeinsamkeiten: Nämlich den Willen, gute Forschung zu leisten. Was macht für Sie gute Forschung aus?
Ein zentraler Punkt ist für mich die Qualität der Fragestellung. Eine gute, originelle Frage ist eine, die aus Neugier eine wichtige Wissenslücke adressiert und bei der die Antwort nicht schon vorbereitet auf dem Tisch liegt.
Es geht darum, die Balance zu finden zwischen der Schwierigkeit der Aufgabe und den Ressourcen, die ich zu investieren bereit bin. Den Grat zu finden, was gerade noch machbar ist, macht gute, originelle und kreative Forschung aus, die wirklich zu Fortschritt führt. Ein Ziel von mir wäre, die Forschenden zu motivieren, in diese Richtung zu gehen.
Sie waren selber Postdoc beim späteren Nobelpreisträger Tomas Lindahl, dem Entdecker der DNA-Reparatur. Was haben Sie bei ihm über gute Forschung gelernt?
Genau das. Tomas hatte die Grösse zu sagen, wir warten mit der Publikation, bis wir eine gute Frage beantwortet haben. Die Qualität von Forschenden zeigt sich nicht darin, wie häufig sie publizieren, sondern dass sie etwas bewirken, wenn sie publizieren, das war sein Credo. Natürlich muss man als Forscherin und Forscher diesem Druck standhalten, denn man wird an seinem Output gemessen. Aber den Mut zu haben, eine zentrale Wissenslücke anzugehen, eine anspruchsvolle Frage zu stellen und sie mit einem guten Forschungsansatz zu beantworten, das habe ich bei ihm gelernt.
Sie wurden für eine vierjährige Amtszeit gewählt. Wo braucht es Schwerpunkte und welche Themen sollten in dieser Zeit stärker in den Fokus rücken?
Wir müssen die Universität als Universität entwickeln. Als Rektorat müssen wir schauen, wo wertvolle Pflänzchen spriessen, und wir müssen den Boden bestellen, damit diese Pflänzchen gut wachsen können. Was ich tun kann, ist ein Dialog zu fördern, der dazu führt, dass die Forschenden selbst herausfinden: Was sind unsere Schwerpunkte, wo sind wir wirklich gut, wo können wir etwas bewirken? Und dann können wir dort unter die Arme greifen, wo etwas Interessantes und Spannendes passiert.
Und wie kann dann die Unileitung unterstützen?
Wenn wir innovative Forschende oder Forschungsbereiche mit kreativen, guten Ideen entdecken, können wir auf die Forschenden zugehen und fragen, was es braucht, um die Bremsen zu lösen und die Projekt gedeihen zu lassen.
Das muss nicht immer Geld sein, manchmal reicht es, Kontakte zu vermitteln, Interaktionen herzustellen, Netzwerke zu stärken, damit gute Dinge passieren und gedeihen können. Es geht immer darum, ein Umfeld zu schaffen, in dem die Forschenden mit ihren Interessen und Ideen möglichst weit kommen können.
Apropos Umfeld: Es ist kein Zufall, dass unsere Universität einen Schwerpunkt in den Bereichen Life Sciences und Medizin hat. Welche Rolle soll die Universität im regionalen Umfeld spielen?
Wir sind inmitten von Big Pharma, umgeben von sehr viel Innovation aus dem Bereich der kleineren Start-ups, wir haben Spitzendepartemente wie das Biozentrum und die Biomedizin, wir haben assoziierte Institute wie das Swiss TPH und das FMI, wir haben das neue Institute of Human Biology von Roche, die ETH Zürich in Basel und so weiter. Das sind zahlreiche Player, die an ähnlichen Konzepten und Ideen arbeiten, und wenn man diese zusammenbringt, entstehen sehr viele Möglichkeiten, Synergien zu schaffen und nutzen. Es ist ein konkreter Plan von mir, dieses Ökosystem besser zu nutzen und die Leute aus den verschiedenen Institutionen zusammenzubringen, um ins Gespräch zu kommen und gemeinsam etwas zu bewirken. Da sehe ich noch sehr viel Luft nach oben.
Und die anderen Forschungsbereiche?
Das Standortpotenzial zu nutzen halte ich für alle Bereiche für sinnvoll. Auch wenn die Möglichkeiten in anderen Forschungsbereich nicht in gleicher Art offensichtlich sind, bin ich überzeugt, dass sie existieren.
Eine meiner spannendsten Aufgaben ist, zu schauen: Wo haben wir Schwerpunkte, die wir nicht oder zu wenig sehen? Wo können wir über Fachbereiche hinaus Kooperationen oder zumindest einen Dialog anstossen, der zu einer Schwerpunktbildung führt? Wir sind eine Volluniversität und trotzdem reden wir meist, wenn es um Schwerpunkte geht, nur von Life Sciences oder Quantum Computing. Das finde ich immer ein bisschen schade. Das sind hervorragende Bereiche, aber es gibt sicher auch andere, die ein grosses Potenzial haben, aber einfach noch zu wenig sichtbar sind.
Die Wissenschaft geniesst in der Schweiz eine hohe Glaubwürdigkeit. Gleichzeitig wird erwartet, dass Forschende verantwortungsvoll und nach hohen ethischen Standards arbeiten. Wie kann die Universitätsleitung für eine gute wissenschaftliche Praxis sorgen?
Das ist eine Frage der Kultur, die wir in der Wissenschaft leben. Für mich gehört zu exzellenter Forschung nicht nur eine gute Fragestellung, sondern es gehört genauso dazu, dass wir fair in der Forschung sind, dass wir ehrlich sind, dass wir nur Resultate publizieren, die richtig und belastbar sind, und dass wir unsere ethische Verantwortung wahrnehmen. Und da können wir als Universitätsleitung ein Umfeld schaffen, das dies unterstützt: Wir können Prozesse etablieren, die sicherstellen, dass Fairness, Ehrlichkeit, Offenheit und ethische Aspekte gewährleistet sind, oder etwa auch der offene Umgang mit Forschungsdaten. Dafür gibt es Kommissionen mit entsprechenden Prozessen zur Begutachtung von Forschungsanträgen etc. Da hat mein Vorgänger schon viel investiert, und wir werden versuchen, das weiter zu optimieren.
Ein wiederkehrendes Thema in der Forschung sind die Arbeitsbedingungen des Mittelbaus. Wie lassen sich Exzellenz in der Forschung und zeitgemässe Arbeitsbedingungen zusammenbringen?
Tatsächlich haben sich die Werte im Laufe der Zeit verändert, und ich bin für die heutige Generation von Doktorierenden und Postdocs wahrscheinlich kein Vorzeigemodell. Ich habe Forschung nie als 9-to-5-Job erfahren und sehe es so: Als Forschende an einer Universität sind wir privilegiert; wir geniessen die Freiheit und das Vertrauen der Institution, unseren Interessen nachgehen zu können – und dafür sind wir auch bereit, die eine oder andere Extrameile zu gehen. In meinem Umfeld ist das für die meisten eine Selbstverständlichkeit. Andererseits besteht heute der Wunsch nach geregelten Arbeitsbedingen mit genügend Zeit für den Ausgleich, und der ist auch berechtigt.
Wir sollten deshalb Regeln haben, die diesen Bedürfnissen gerecht werden und die Forschenden auch vor Missbrauch schützen, aber es zugleich ermöglichen, nach wie vor die Extrameilen gehen zu können. Und wir sollten unsere Forschungskultur so weiterentwickeln, dass qualitativ hochstehende Forschung und Freizeit miteinander vereinbar werden. Dabei müssen wir besonders darauf achten, dass wir die Neugier, die Begeisterung und den Fokus bei den Forschenden aufrechterhalten können und die anspruchsvolle Aufgabe nicht zum 9-to-5-Job wird – denn wir stehen in der Forschung in einem internationalen Wettbewerb mit Konkurrenten, die sehr schnell, sehr viel und sehr fokussiert arbeiten – und am Ende kann man jede neue Entdeckung nur genau einmal machen.
Sie haben am Vormittag noch eine Vorlesung gehalten. Bleiben Sie als Vizerektor Forschung weiterhin auch in der Lehre tätig?
Für mich war es eine Bedingung, dass ich noch etwas Zeit für die Lehre und für die Forschung reservieren kann. Das muss ich jetzt halt so organisieren, dass es geht. Im Moment gehen einfach die Wochenenden drauf, das ist klar. Aber ich lehre wahnsinnig gerne, es ist eine superschöne und bereichernde Erfahrung, gemeinsam mit Studierenden ein Thema zu entwickeln. Auch der regelmässige Austausch mit den Mitarbeitenden in meiner Forschungsgruppe ist mir sehr wichtig und ein toller Ausgleich.