Im Fokus: Lerato Posholi will weg von eurozentristischen Sichtweisen
Konzepte helfen uns, die Welt zu verstehen und zu ordnen. Dabei ist uns oft nicht bewusst, woher sie kommen und was ihnen zugrunde liegt. Lerato Posholi untersucht die Politik des Wissens und stützt sich dabei auf die dekoloniale Theorie und soziale Epistemologie.
23. August 2023 | Noëmi Kern
Lassen sich anhand von Konzepten aus dem globalen Süden Erkenntnisse für Europa gewinnen? Was im ersten Moment nach einer rhetorischen Frage klingt, ist der Schwerpunkt der Forschungsprojekts «Reversing the Gaze: Towards Post-Comparative Area Studies.» Das vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützte Projekt will dabei den Eurozentrismus der Wissenschaft überwinden: «Europäische Erfahrungen und Sichtweisen werden auf Afrika oder Südamerika angewandt und die Erfahrungen Europas als universell dargestellt. Den Sozialwissenschaften wird daher immer wieder Eurozentrismus vorgeworfen», erläutert Lerato Posholi.
Die südafrikanische Forscherin ist PostDoc am Europainstitut der Universität Basel. Das Projekt untersucht, wie Begriffe aus dem globalen Süden helfen könnten, um bestimmte Phänomene in der Schweiz, Österreich und Italien zu beschreiben, zu analysieren und zu interpretieren. In einer Fallstudie zu Migration und Staatsbürgerschaft in der Schweiz wird zum Beispiel das Konzept der «Retribalisierung» (Neubildung von «Stämmen», also Gemeinschaften) verwendet, das üblicherweise in afrikanischen Kontexten zur Anwendung kommt.
Im Rahmen des Projekts untersucht Posholi die Politik und Philosophie von Konzepten und deren Verwendung. Sie studierte Philosophie und internationale Beziehungen und doktorierte in Bildungswissenschaften an der Universität Witwatersrand, Johannesburg.
Seit Ende 2020 arbeitet sie nun an «Reversing the Gaze». Nach Basel kam sie allerdings bereits im April 2019. Sie folgte der Einladung von Ralph Weber, Professor für European Global Studies. Posholi hatte ihn im Jahr davor an einer Summer School in Dakar kennengelernt. «Er fand, dass mein wissenschaftlicher Hintergrund gut zu ‹Reversing the Gaze› passt, und wollte mich nach meinem Abschluss als Postdoc anstellen», erinnert sie sich. Während des einjährigen Forschungsaufenthalt als International Fellow des Europainstituts und des Zentrums für Afrikastudien der Universität Basel, finanziert von der Basler Oumou Dilly-Stiftung, konnte sie sich einerseits dem Abschluss ihrer Doktorarbeit widmen und andererseits die Stadt kennenlernen.
Neue Sichtweisen, neue Lösungen?
Gemeinsam mit Ralph Weber ist Lerato Posholi für den theoretischen Teil des Projekts verantwortlich. Das sagt ihr zu: Als Philosophin und Bildungswissenschaftlerin interessiert sich für die Politik des globalen Wissens. Konzepte sind ein Teil davon. «Sie helfen uns, die Welt zu begreifen. Und weil sie nicht den Einzelfall beschreiben, sondern abstrakt sind, lassen sie sich auf unterschiedliche Situationen übertragen.» Daran knüpft das Projekt an: Die Forschenden entledigen die untersuchten Konzepte ihres Kontexts und wenden sie in einer anderen Umgebung an.
Das Forschungsprojekt baut auf drei Fallstudien auf: Migration und Staatsbürgerschaft in der Schweiz, Rechtspopulismus in Österreich sowie Budget- und Finanzpolitik in Italien. Darauf wenden die Forschenden Begriffe an, die für die Untersuchung von politischen Prozessen und Strukturen im globalen Süden entwickelt wurden: re-tribalization, political society und the cunning state. Das ermöglicht neue Sichtweisen und könnte zu neuen Lösungsansätzen inspirieren.
Kulturschock trotz Vorbereitung
Für Lerato Posholi persönlich brachte der Umzug in die Schweiz neue Sichtweisen. Sie erklärt, dass sie nicht viel über das Land wusste, bevor sie nach Basel kam, abgesehen von einigen Stereotypen. «Ich wusste natürlich, dass hier alles teuer und sauber ist», sagt sie mit einem Lachen. Damit sie eine konkretere Idee vom Leben in der Schweiz bekommt, schaute sich sie sich im Vorfeld Youtube-Videos an. So erfuhr sie zum Beispiel, dass man sich im öffentlichen Verkehr nicht zu anderen Menschen ins Abteil setzt, wenn es sonst noch genügend freie Plätze gibt. «Ich setzte mich also frühmorgens im Zug vom Flughafen Zürich nach Basel in ein freies Abteil, mitsamt meinem ganzen Gepäck.» Prompt setzte sich ein Mann zu ihr, obwohl der Zug fast leer war. Sie war entsprechend erstaunt.
Es stellte sich heraus, dass er PostDoc an der Universität Basel war und in Uganda Feldforschung betrieben hatte. «Er erklärte mir, dass ich ähnlich verwirrt wirkte wie er, als er erstmals in Uganda angekommen war, und wollte mir helfen.» Er zeigte ihr, dass es für das Gepäck Ablagen im Waggon gibt, und begleitete sie in Basel zum Studierendenwohnheim. «Das war eine schöne erste Erfahrung in dieser neuen Umgebung», sagt Lerato Posholi.
Geselligkeit nach Terminkalender
In Basel hat sie sich inzwischen eingelebt. Sie bezeichnet die Stadt als «ruhig und entspannt»; das entspreche ihr. «Ich möchte nicht immerzu Abenteuer, sondern vielmehr Routine, Stabilität und Ruhe.»
Dennoch vermisst sie ihr Zuhause, die Vertrautheit. Das Leben in der Schweiz unterscheidet sich in vielem von jenem in Südafrika. Sie habe versucht, die Unterschiede sozialen Kultur ihrer Familie zu erklären, «aber es ist schwierig, sie in Worte zu fassen». Einige Beispiele nennt sie dennoch: etwa die Art und Weise, wie Menschen miteinander in Kontakt treten. In ihrer Heimat finde soziale Interaktion spontan statt, immer und überall: an der Ampel, im Supermarkt, an der Bushaltestelle. Das gehört ganz selbstverständlich zum Alltag. Hierzulande trifft man sich bewusst zu sozialem Austausch, indem man sich zu Anlässen wie Grillabenden oder Partys trifft.
Für Lerato Posholi ist das eine neue Erfahrung. «Ich bin nicht unsozial, aber darin bin ich einfach nicht gut. Früher habe ich mich nie als introvertiert wahrgenommen, aber hier habe ich den Eindruck, dass ich das bin», sagt sie. Sich immerzu anzupassen, findet sie zugleich herausfordernd und spannend.
Im Fokus: die Sommerserie der Universität Basel
Das Format Im Fokus rückt junge Forschende in den Mittelpunkt, die zum internationalen Renommee der Universität beitragen. In den kommenden Wochen stellen wir Akademiker*innen aus unterschiedlichen Fachrichtungen vor, die stellvertretend für die über 3000 Doktorierenden und Postdocs der Universität Basel stehen.