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Wie der Nahostkonflikt die Wissenschaft verändert

Prof. Dr. Maurus Reinkowski (links) und Prof. Dr. Alfred Bodenheimer im Gespräch.
Mut zum Aushalten: Maurus Reinkowski, Professor für Islamwissenschaft, (links) und Alfred Bodenheimer, Professor für Religionsgeschichte und Literatur des Judentums, betonen die Wichtigkeit des wissenschaftlichen Diskurses – unabhängig ihrer persönlichen Meinungen (Bild: Universität Basel, Florian Moritz).

Nach fast einem Jahr Krieg im Nahen Osten stellt sich die Frage, welche Rolle die Wissenschaft einnehmen soll: kommentieren, beobachten, ausklammern? Alfred Bodenheimer und Maurus Reinkowski im Gespräch über unterschiedliche Meinungen, politische Wissenschaft und die Emotionen, die in der Universität Einzug halten.

01. Oktober 2024 | Noëmi Kern, Catherine Weyer

Prof. Dr. Maurus Reinkowski (links) und Prof. Dr. Alfred Bodenheimer im Gespräch.
Mut zum Aushalten: Maurus Reinkowski, Professor für Islamwissenschaft, (links) und Alfred Bodenheimer, Professor für Religionsgeschichte und Literatur des Judentums, betonen die Wichtigkeit des wissenschaftlichen Diskurses – unabhängig ihrer persönlichen Meinungen (Bild: Universität Basel, Florian Moritz).

Herr Bodenheimer, Herr Reinkowski, hätten Sie erwartet, dass dieser Krieg zwischen Israel und Palästina so lange dauert?

Bodenheimer: Nein. Israel ist eigentlich ein Land der kurzen Kriege. Weil es ein kleines Land ist, hat es gar nicht die Ressourcen, um lange in einem Krieg zu verweilen. Es ist vieles anders gekommen: Ich hätte nicht erwartet, dass es zu so wenigen Paradigmenwechseln in der israelischen Politik kommen würde. Dass die israelische Regierung nicht zurücktreten musste, war für mich eine grosse Überraschung.

Reinkowski: Keiner von uns hätte voraussehen können und wollen, dass der Krieg jetzt bald ein Jahr dauert.

Wie hat sich Ihre Arbeit als Wissenschaftler verändert seit dem 7. Oktober?

Prof. Dr. Alfred Bodenheimer.
Alfred Bodenheimer ist Professor für Religionsgeschichte und Literatur des Judentums an der Universität Basel und Leiter des Zentrums für Jüdische Studien. Er lebt in Basel und im Norden Israels (Bild: Universität Basel, Florian Moritz).

Bodenheimer: Auf mich kam eine riesige Welle an Öffentlichkeitsanfragen zu. Wohl auch, weil ich am 7. Oktober 2023 in Israel war und teilweise dort lebe. Aber auch in meiner täglichen Arbeit hat sich viel verändert: Vieles ist politischer geworden. Früher konnten wir Wissenschaftler kontroverse Dinge diskutieren und unterschiedliche Meinungen thematisieren. Das ist ein wissenschaftlicher Zugang, wie wir ihn uns wünschen. Heute ist das schwierig – ich erlebe das als beschädigend für die Universität.

Reinkowski: Der 7. Oktober und der nachfolgende Krieg hat zu einer Tribalisierung der Positionen geführt. Du gehörst zu unserem Stamm oder zum anderen Stamm. Und eigentlich ist es nicht mehr legitim, sich als dazwischen befindlich zu erklären. Das macht die Arbeit als Wissenschaftler schwierig. Wir in den Nahoststudien haben es da leichter als die Jüdischen Studien: Ihr werdet quasi haftbar gemacht für die Politik des Staates Israel. Niemand würde auf die Idee kommen, uns haftbar zu machen für die Taten der Hamas.

Wie sehr hilft Ihnen Ihre wissenschaftliche Perspektive im Verständnis dieses Konfliktes?

Reinkowski: Natürlich hilft es, die historische Tiefe des Konfliktes zu kennen. Dennoch muss man aufpassen, nicht zu denken, dass man auf der Grundlage objektiver Tatsachen eine restlose Klarheit über diesen Konflikt besitzt. Das wäre eine Illusion. Ich kann mit meinen eigenen Instrumenten dazu beitragen, eine historische Tiefe in die Öffentlichkeit zu tragen. Gleichzeitig muss ich aber auch akzeptieren, dass meine Aussagen eine politische Bedeutung bekommen können oder politisch gewertet werden. Das ist ja auch der Grund, dass viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler davor zurückschrecken, sich überhaupt zu dem Thema zu äussern.

Es ist mir wichtig, dass meine Studierenden lernen, die unterschiedlichen Meinungen zu hören und auszuhalten. Im Sinne von: ‹Ihr müsst jetzt nicht so denken, aber hört es euch wenigstens an!› Das ist unser universitärer Auftrag.

Alfred Bodenheimer

Bodenheimer: Ich bin in der interessanten Situation, dass ich in der Schweiz als Proto-Zionist interpretiert werde und in Israel als Proto-Linker. Das ist eigentlich eine sehr eigenartige Rolle, weil ich sowohl in Israel als auch in der Schweiz die gleiche Meinung vertrete. Es fällt mir auf, dass ein Bedürfnis besteht, mich in eine Schublade zu stecken. Das ist eine schwierige Situation, die meinem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit widerspricht.

Merken Sie in Seminaren oder Vorlesungen, dass sich die Haltung der Studierenden gewandelt hat?

Bodenheimer: Ich gebe gerade einen Kurs über verschiedene Einschätzungen des Antisemitismus. Natürlich habe ich da eine klare Meinung. Aber es ist mir wichtig, dass meine Studierenden lernen, die unterschiedlichen Meinungen zu hören und auszuhalten. Im Sinne von: «Ihr müsst jetzt nicht so denken, aber hört es euch wenigstens an!» Das ist unser universitärer Auftrag: Menschen ins Denken zu bringen. Nicht, ihnen meine Meinung aufzudrücken. Das Semester hat relativ ruhig begonnen, das ist schon mal hoffnungsvoll. Aber ich weiss nicht, ob und was ein Trigger sein kann, dass die Situation wieder eskaliert.

Ich muss akzeptieren, dass meine Aussagen politisch gewertet werden können. Das ist ja auch der Grund, dass viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler davor zurückschrecken, sich überhaupt zu dem Thema zu äussern.

Maurus Reinkowski

Reinkowski: Seit dem 7. Oktober gibt es auch bei den Nahoststudien ein grosses Bedürfnis, über den Konflikt zu sprechen und zu verstehen, wie es so weit kommen konnte. Und wir spüren auch die Internationalisierung des Konflikts an den Universitäten, zum Beispiel an der Columbia-Universität in den USA oder der Sciences Po in Frankreich: Auch die Universitäten werden in diesen Konflikt hineingezogen.

Sie sind in vielen Punkten, die den Nahostkonflikt betreffen, einig, aber nicht in allen. Wie wirkt sich das auf Ihre Zusammenarbeit aus?

Prof. Dr. Maurus Reinkowski.
Maurus Reinkowski ist Professor für Islamwissenschaft an der Universität Basel und Leiter des Fachbereichs Nahoststudien. Er lehrt und forscht vor allem über die neuere Geschichte des Nahen Ostens und des östlichen Mittelmeerraums (Bild: Universität Basel, Florian Moritz).

Reinkowski: Wir haben über die Jahre hinweg immer wieder zusammengearbeitet – ganz unspektakulär. Wir hätten uns ja grandios gegenseitig ignorieren können. Aber das haben wir ganz bewusst nicht getan.

Bodenheimer: Ich bin sehr froh, dass wir die Beziehungen zwischen den Nahoststudien und den Jüdischen Studien über Jahre aufgebaut haben. Maurus Reinkowski und ich haben eine Gesprächsbasis, die auch nicht erschüttert wird, wenn wir nicht gleicher Meinung sind. Vielleicht werden wir von gewissen Menschen in ein Lager gezwängt, aber ich empfinde nicht, dass wir Teil einer Lagerbildung geworden sind. Für das kommende Semester haben wir mit der Planung einer gemeinsamen Ringvorlesung gestartet. Wir wollen dabei einen multiperspektivischen Blick auf unterschiedliche Themen werfen: Landfragen, Ressourcenfragen, juristische Fragen, die diesen Konflikt prägen und begleiten. Das soll nicht konfrontativ geschehen, sondern als Diskurs.

Was kann die Wissenschaft leisten oder auch vorleben in einer so aufgeheizten Situation wie aktuell dem Nahost-Konflikt?

Reinkowski: Wir Wissenschaftler antworten oft zu diffus. Politikberatung und Medien erwarten klare Aussagen. Dass dahinter ein Reflexionsprozess stehen kann, wird angenommen, dennoch kommen Politik und Medien mit «Sowohl-als-auch»-Antworten schlecht zurecht, weil sie klare Botschaften haben wollen. Aber ich glaube, in diesem Konflikt gibt es genug Statements, die eindeutig sind. Wir Wissenschaftler haben die Möglichkeit, uns im grossen Graubereich zwischen den Fronten zu betätigen und den Konflikt einzuordnen.

Bodenheimer: Die Wissenschaft ist gefragt, weil wir halt dieses Buchwissen haben. Wir haben viele Dinge nicht nur gelesen, sondern auch hinterfragt, vielleicht auch die Gegenthese gelesen. Das ist eben dieser Graubereich, der oft so schwierig zu vermitteln ist. Aber man darf die eigene Wirkung auch nicht überschätzen. Die meisten Leute haben ja ihre Meinung schon, bevor sie uns zuhören. Wenn Maurus Reinkowski interessante Dinge erzählt, dann lerne ich vielleicht etwas. Aber in der Regel verändert sich meine Gesamteinschätzung des Konflikts dadurch nicht. Wir können durch unsere Einordnung höchstens noch eine andere Perspektive einbringen.

Braucht es in der Wissenschaft mehr Emotionalität oder muss die Gesellschaft auf die wissenschaftlichen Werte der Sachlichkeit zurückkommen?

Reinkowski: Natürlich verändert sich die Wissenschaft, schon allein aufgrund neuer Technologien. Aber innerhalb der Wissenschaft sollten wir nicht mehr Emotionalität zulassen, wie dies durch die sozialen Medien befeuert wird. Im Gegenteil: Die Wissenschaft soll auf ihren Grundprinzipen beharren, also Emotionen herausnehmen, erklären, differenzieren und historische Entwicklungen verstehen.

Bodenheimer: Ich glaube, dass Veränderung der Wissenschaft immanent ist. Nehmen Sie mich: Das Fach Jüdische Studien gab es vor 27 Jahren in Basel noch gar nicht. Wenn sich die Wissenschaft nicht verändern würde, gäbe es Wissenschaftler wie mich gar nicht und die universitäre Expertise zum Judentum käme von Theologen. Die Schwerpunkte ändern sich und das ist auch gut so. Mit den neuen technischen Möglichkeiten verändert sich wohl auch der Auftrag der Wissenschaften: Die Denkansätze rücken in den Fokus. Reine Informationen kann ich von überall herbekommen. Aber das Einordnen, die Kontrolle der Informationen und die Interpretation – all das wird für uns zu einer wichtigen Aufgabe. Hier können und sollen die Geisteswissenschaften in Zukunft ihre Schwerpunkte setzen.

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