Autismus: Wie eine Genveränderung das Sozialverhalten beeinflusst
Forschende am Biozentrum der Universität Basel haben einen neuen Zusammenhang zwischen einer Genveränderung und abweichendem Sozialverhalten bei Autismus entdeckt: Die Mutation im Neuroligin-3-Gen reduziert im Gehirn die Wirkung des «Kuschelhormons» Oxytocin. Im Fachjournal «Nature» stellen die Forschenden einen Behandlungsansatz vor, der das Sozialverhalten bei Autismus normalisieren könnte. Im Tierversuch erzielten sie bereits vielversprechende Ergebnisse.
05. August 2020
Autismus tritt bei etwa einem Prozent der Bevölkerung auf und ist durch Veränderungen in der Kommunikation, sich wiederholende Verhaltensmuster und Abweichungen im Sozialverhalten gekennzeichnet. Es gibt zahlreiche genetische Faktoren für die Entstehung von Autismus. Dazu zählen Hunderte verschiedene Gene, darunter auch das Gen Neuroligin-3. Die Mechanismen, wie diese Vielzahl genetischer Veränderungen mit den Symptomen von Autismus zusammenhängen, sind allerdings noch weitgehend unklar. Das macht es schwierig, Ansatzpunkte für die Entwicklung neuer Therapien zu identifizieren.
Ein Forschungsteam um Prof. Dr. Peter Scheiffele am Biozentrum der Universität Basel hat nun in Versuchen mit Mäusen eine unerwartete Verbindung zwischen dem Gen Neuroligin-3 und dem Oxytocin-Signalweg aufgedeckt. Das Hormon Oxytocin steuert bei Säugetieren das Sozialverhalten, insbesondere soziale Interaktionen, und wird auch als «Kuschelhormon» bezeichnet.
Genveränderung beeinflusst Reaktion von Nervenzellen
Mäuse mit Mutationen in bestimmten Genen, die bei Menschen zu typischen Verhaltensweisen im Zusammenhang mit Autismus führen, werden in der Wissenschaft als Modellsystem verwendet, um Autismus zu erforschen.
Die Forschenden um Scheiffele konnten durch Versuche mit einem solchen Mausmodell nachweisen, dass eine Autismus-assoziierte Veränderung im Neuroligin-3-Gen die Oxytocin-Signalwege in den Nervenzellen im Belohnungssystem des Gehirns der Mäuse stört. Als Folge davon waren die sozialen Interaktionen zwischen den Tieren reduziert. Wie sich herausstellte, stört der Verlust von Neuroligin-3 das Gleichgewicht der Proteinproduktion in den Nervenzellen. Dieses Ungleichgewicht wiederum verändert die Reaktion der Nervenzellen auf Oxytocin.
Dass über Oxytocin vermittelte Signale eine Rolle bei Autismus spielen, wurde bereits vermutet. «Dass Mutationen im Neuroligin-3-Gen direkt die Oxytocin-Signalwege beeinflussen, hat uns dennoch sehr überrascht. Uns ist es gelungen, zwei Teile des Puzzles über den Mechanismus von Autismus zusammenzusetzen», so Scheiffele.
Veränderter Signalweg ist reversibel
Darüber hinaus konnte das Forschungsteam zeigen, dass sich die Veränderung im Oxytocin-System bei den Mäusen mit Neuroligin-3-Mutation durch die Behandlung mit einem pharmakologischen Hemmstoff der Proteinsynthese wieder beheben lässt. Das Sozialverhalten der Mäuse normalisierte sich daraufhin: Sie reagierten wie ihre gesunden Artgenossen unterschiedlich auf ihnen bekannte und fremde Mäuse. Derselbe Hemmstoff wirkte sich auch in einem zweiten Mausmodell für Autismus positiv auf die Verhaltensweise aus und könnte daher eine breitere Anwendung bei der Behandlung von Autismus ermöglichen.
Diese nun neu entdeckte Verbindung zwischen drei wichtigen Elementen – einem genetischen Faktor, der Regulation des Sozialverhaltens durch das Oxytocin-System und Veränderungen in der neuronalen Proteinsynthese – bringt etwas mehr Klarheit in der Frage, wie die vielfältigen Ursachen für die Entstehung von Autismus zusammenhängen. Zudem zeigen die Ergebnisse neue Wege auf, wie sich bestimmte Aspekte des Sozialverhaltens bei Autismus möglicherweise – falls gewünscht – behandeln lassen.
Originalbeitrag
Hanna Hörnberg, Enrique Perez-Garci, Dietmar Schreiner, Laetitia Hatstatt-Burklé, Fulvio Magara, Stephane Baudouin, Alex Matter, Kassoum Nacro, Eline Pecho-Vrieseling, and Peter Scheiffele
Rescue of oxytocin response and social behavior in a rodent model of autism.
Nature (2020), doi: 10.1038/s41586-020-2563-7
Weitere Auskünfte
Prof. Dr. Peter Scheiffele, Universität Basel, Departement Biozentrum, Tel. +41 61 207 21 94, E-Mail: peter.scheiffele@unibas.ch