Nationalhelden aus dem Fotostudio
Till Hein
Martina Baleva untersucht in ihrem aktuellen Forschungsprojekt historische Visitenkartenporträts – das «Facebook des 19. Jahrhunderts». Ihr Befund: Schon damals wurden die «User» oft an der Nase herumgeführt.
Verwegen sehen sie aus, die mit Bajonett oder Krummsäbel bewaffneten bulgarischen «Nationalhelden» in ihren Husarenuniformen: wild entschlossen, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um die Fesseln der Fremdherrschaft zu sprengen. Martina Baleva, FAG Stiftungs-Assistenzprofessorin für Kulturelle Topographien Osteuropas, kennt ihre Porträts seit der Kindheit. «Bei Paraden und Kundgebungen prangten sie auf riesigen Plakaten», erinnert sich die Historikerin, die in Sofia aufgewachsen ist. «Sie waren für mich wie eine Art Vaterfiguren.» Bis heute hängen die Porträts in Bulgarien in Schulen und öffentlichen Gebäuden, illustrieren Standardwerke zur Geschichte. «Sie sind fester Bestandteil der kollektiven historischen Traditionspflege», sagt Baleva, «und haben sich als Bildzeugnisse der nationalen Revolution tief in das visuelle Gedächtnis ganzer Generationen eingeprägt.» Martina Baleva hat nun herausgearbeitet, was wirklich hinter diesen Bildern steckt.
Die Originale der Fotos aus der «Helden-Galerie», die sie seit ihrer Kindheit kennt, sind allesamt Visitenkartenporträts, erzählt die Forscherin. Solche Fotos waren einst ein Massenphänomen der Populärkultur. Ein neues technisches Verfahren hatte es möglich gemacht, schnell und preiswert ganze Serien von Fotos herzustellen. Mitte des 19. Jahrhunderts in Paris erfunden, verbreitete sich das neue Medium schnell in weiten Teilen der Welt.
Instrument der Selbstdarstellung
Bald liessen sich nicht mehr nur die Mächtigen porträtieren, sondern alle Bevölkerungsschichten: seien es Kaufleute in Paris, schwarze Sklaven in den Südstaaten der USA, oder Freischärler auf dem Balkan. Visitenkarten mit Porträtfotos dienten als Instrument für Eigenwerbung, «Networking» und Selbstdarstellung. Man schickte sie an einflussreiche Leute oder gab sie vor Audienzen beim Gastgeber ab. Sie halfen dabei, Geliebte zu umwerben, Geschäftsbeziehungen anzubahnen und Gleichgesinnte um sich zu scharen. «Visitenkarten-Porträts waren nicht weniger als der analoge Vorläufer heutiger sozialer Netzwerke», sagt Baleva. «Sie waren das Facebook des 19. Jahrhunderts.»
Seit zwei Jahren untersucht die Historikerin die Helden-Fotos. Hunderte hat sie gesammelt. Als Reproduktionen zieren sie die Wände ihres Forschungszimmers. Die Bilder stammen aus den 1860erund 1870er-Jahren und zeigen in Wirklichkeit nicht nur Männer aus Bulgarien, sondern aus der gesamten Balkanregion, die damals noch zum Osmanischen Reich gehörte. Und immer wieder stösst die Wissenschaftlerin auf überraschende Details: Bei einem der Porträts stellte sie etwa fest, dass sich der Abgebildete Gamaschen über die Schuhe gestülpt hat, um Reitstiefel zu imitieren. «Oder hier», sagt Baleva und deutet auf die Beinpartie eines der Männer. «Dem ist die Uniform doch viel zu gross.» Bei anderen «Nationalhelden» offenbart ein kritischer Blick, dass der Uniformrock im Schulterbereich verdächtig spannt. «Alle Porträtierten hier auf der rechten Seite trugen im Fotostudio dieselbe Uniform», klärt Baleva auf. «Die vermeintlichen Schnappschüsse von Helden sind Inszenierungen: Sie zeigen Kostümierte.»
Aus anderen Quellen weiss sie inzwischen, dass die realen Freischärler auf dem Balkan in den 1860er- und 1870er-Jahren keineswegs in solchen Uniformen mit elegant verschnürten Jacken und eng anliegenden Beinkleidern kämpften, sondern meist in abgetragenen Klamotten, in denen man sonst Feldarbeit verrichtete. Und nur eine Minderheit der abgebildeten «Nationalhelden» gehörte überhaupt zu den Rebellen, hat Baleva herausgefunden. «Auch brave Zivilisten setzten sich für ihr Visitenkarten- Foto mit Vorliebe so in Szene, wie sie sich heroische Freiheitskämpfer vorstellten.» Die Wissenschaftlerin spricht daher von einer «nationalen Revolution in der Dunkelkammer».
«So ist die Welt!»
Bei ihrer Forschung zur visuellen Historiographie hat Martina Baleva jedoch nicht nur die Balkanregion und das 19. Jahrhundert im Blick. Generell plädiert die Wissenschaftlerin für einen vorsichtigen Umgang mit historischen oder aktuellen Fotos: egal ob aus Zeitungen, Zeitschriften oder Geschichtsbüchern. «Solche Bilder beeinflussen unser Denken ungemein», betont die Wissenschaftlerin. «‹So ist die Welt!›, gaukeln Fotos vor», sagt sie und lächelt. «Aber das ist fast immer ein Irrtum.» Sehr oft würden Bilder gezielt inszeniert, um Emotionen zu wecken und die Betrachter zu manipulieren. «Wir sollten uns bewusst machen, dass ein Ereignis und seine bildliche Darstellung immer zweierlei sind.»
In Lehrveranstaltungen schärft sie Studierenden denn auch ein, jedes Mal zu fragen: Wie ist ein Bild entstanden? Wer hat es zu welchem Zweck in die Welt gesetzt? Und welche Aspekte der Realität blendet es aus? Das «Facebook des 19. Jahrhunderts» nutzten um das Jahr 1870 unter anderen einige Dutzend revolutionär gesinnte Männer in der Balkanregion des Osmanischen Reichs, kommt Baleva wieder auf ihr aktuelles Forschungsprojekt zu sprechen: Der Freischärler Vasil Levski, ihr wichtigster Anführer, forderte damals in einem Schreiben an lokale revolutionäre Komitees explizit: «Verteilt auch mein Bild!» Ein idealisierendes Bild, das ihn in der Pose des schneidigen Revolutionärs im besten Licht als Husarenoffizier zeigt.
In Wirklichkeit seien Levski und seine Mitstreiter nicht unbedingt Lichtgestalten gewesen, so Baleva. «Man sollte sich ihre Aktionen eher wie Terroranschläge vorstellen als wie heroische Volksaufstände gegen die Fremdherrschaft.» Durch aus dem Hinterhalt angezettelte Scharmützel versuchten die Freischärler etwa, den osmanischen Staat zu einem überzogenen Vergeltungsschlag zu provozieren – und hofften auf das Eingreifen anderer Grossmächte. Eine Strategie, die schliesslich aufging. Im April 1877 erklärte Russland dem Osmanischen Reich den Krieg – und nach dem Sieg des Zarenreichs erlangten Bulgarien, Rumänien, Serbien und Montenegro 1878 politische Unabhängigkeit.
Doch so manchen patriotisch gesinnten Geschichtsschreibern in Bulgarien erschien die Realität nicht heroisch genug. «Und die einheitliche Ästhetik dieser Helden-Porträts hier», sagt Baleva und deutet auf die mit Fotos gespickten Wände ihres Forschungszimmers, «war ihnen ein willkommener Anlass, im Nachhinein den Anschein einer geschlossen auftretenden Militäreinheit für die nationale Befreiung zu erwecken.» In bulgarischen Geschichtsbüchern sei denn auch bis heute von «Tausenden Aufständischen gegen die Fremdherrschaft» zu lesen – während es sich in Wirklichkeit, wie sorgfältiges Quellenstudium zeige, nur um wenige Hundert gehandelt habe. «Fotos bebildern also keineswegs nur die Realität – sie schaffen selbst Realitäten», sagt Baleva.
Bilder im Fokus der Forschung
Historische Fotos sollten daher nicht länger als «illustrierendes Beiwerk der Geschichtsschreibung» betrachtet werden, fordert sie: «Sie müssten zu einem zentralen Gegenstand historischer und zeitgeschichtlicher Forschung werden.» Die Forscherin verweist auf den sogenannten Iconic Turn, der seit den 1990er-Jahren viele Geistes- und Sozialwissenschaftler umtreibt: Schriftliche Quellen treten bei diesem Ansatz zunehmend in den Hintergrund, und an ihrer Stelle gelangen Bilder in den Fokus.
«Das wurde höchste Zeit», sagt Baleva. Zumal man sich in der Bilderflut, welche die moderne Welt ununterbrochen produziere, leicht verlieren könne. Staunend beobachtet sie im Alltag, wie viele junge Menschen ständig wie besessen mit ihren Smartphones Fotos schiessen. Sie selbst fotografiert nie. Und wenn immer möglich, wählt sie ein langsames Tempo bei der Auseinandersetzung mit Bildern aller Art: Sei es beim Zeitungslesen, beim Surfen im Internet, beim Studieren von Geschichtsbüchern oder im Museum. «Durch eine Gemäldeausstellung wie durch einen Park zu spazieren, erscheint mir absurd», sagt sie. «Wenn ich ins Kunstmuseum gehe, dann sehe ich mir jedes Mal nur ein einziges Bild an.»
Schliesslich verweist Baleva noch einmal auf ihr aktuelles Forschungsprojekt: die historischen Visitenkarten-Porträts. Nicht selten wurden die «User» dieses Mediums damals an der Nase herumgeführt: Oft stellte sich die betreffende Person in Wirklichkeit als deutlich weniger schön, belesen, mutig oder kompetent heraus, als ihr Porträt vorgaukelte – ähnlich wie heute im Internet. «Wer das Facebook des 19. Jahrhunderts geschickt zu nutzen wusste», sagt sie und deutet auf die Fotos an den Wänden, «konnte Herzen brechen, berühmt werden oder politische Umstürze auslösen.»
Die Porträts der «Bulgarischen Nationalhelden» haben sogar heute – 150 Jahre nach ihrer Entstehung – noch Einfluss auf das Leben in ihrer alten Heimat, erzählt Baleva. Viele der Männer posieren in Husarenuniformen; Uniformen also, die ursprünglich aus Polen und Ungarn stammen. «Heute aber tragen die Nationalgardisten in Bulgarien voller Stolz Husarenuniformen», erzählt Baleva. «Das gilt bei uns als Tradition.» Dabei existierte diese Kampfkleidung zur Zeit der «Nationalen Revolution» im Gebiet des heutigen Bulgariens ausschliesslich in Fotostudios.
Martina Baleva ist FAG Stiftungs-Assistenzprofessorin für Kulturelle Topographien Osteuropas im 19. und 20. Jahrhundert an der Universität Basel.