Jeder Mensch ist seine eigene Uhr
Text: Oliver Klaffke
Menschen haben ihren eigenen Schlaf-Wach-Rhythmus, der durch das Licht von Smartphones und Tablets durcheinandergebracht werden kann. An den Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) Basel untersucht das Team von Christian Cajochen diesen Rhythmus beim Menschen.
Erst wenn man nicht mehr weiss, ob es Tag oder Nacht ist, ob es Zeit zum Aufstehen, zum Schlafengehen oder zum Essen ist, erst dann ist man richtig von der Umwelt abgeschnitten. «Genau das sind die Bedingungen, die wir in unseren Schlaflabors haben, um den Schlafrhythmus des Menschen zu untersuchen», sagt Prof. Christian Cajochen von den UPK Basel. Seine Arbeitsgruppe studiert die innere Uhr des Menschen, die auch ganz ohne äussere natürliche Zeitgeber (wie den Tag-Nacht-Rhythmus) oder soziale (wie Essens- oder Fernsehzeiten) funktioniert.
In der Abgeschiedenheit des unterirdischen Schlaflabors mit seinen dicken Wänden, durch die kein Geräusch von aussen dringt, weder von der Autobahn noch vom Flughafen Basel-Mulhouse, geschweige denn Vogelgesang am Morgen, läuft der Rhythmus der Versuchspersonen in ihrem individuellen Takt. «Jeder Mensch hat seinen eigenen Rhythmus mit Schlaf- und Wachphasen, der bei den einen mal etwas länger und bei den anderen mal kürzer als 24 Stunden ist», sagt Cajochen. «Normalerweise wird dieser Rhythmus von äusseren Zeitgebern an die Umwelt angepasst.»
Stimmung und Tageszeit
Die Chronobiologie ist Cajochens Fachgebiet, das in den letzten Jahren gründlich mit der Vorstellung aufgeräumt hat, dass der Mensch ein Organismus ohne eigene Zeit ist – dauerhaft belastbar, ständig einsetzbar und leistungsfähig bis zum Äussersten. Auf dieser Idee gründet sich das Selbstverständnis der modernen Leistungsgesellschaft. «Unsere Ergebnisse lassen die Zeitnatur des Menschen in einem ganz anderen Licht erscheinen», sagt Cajochen. Der Mensch ist, wie wahrscheinlich die meisten Tiere auch, ein Wesen, das einem inneren zeitlichen Rhythmus unterworfen ist, der sich nicht beliebig ändern lässt. Physiologische Prozesse wie die Verdauungsleistung und der Metabolismus von Medikamenten sind je nach Tageszeit unterschiedlich. Die Stimmungslage des Menschen hängt ebenfalls von der Tageszeit ab, wie auch die Fähigkeit, komplizierte Aufgaben zu lösen: «Der Mensch ist eine Uhr, und jeder ist seine eigene.»
Im Schlaflabor in Basel hat Cajochen mit seinen Mitarbeitern etwa den Zusammenhang zwischen Wohlbefinden und der Tageszeit untersucht. Bei allen Versuchspersonen zeigte sich, dass am Morgen zwischen 3 und 6 Uhr der Wert ihres «Happiness-Index» am geringsten war. Glücklich bis sogar sehr glücklich waren sie vom frühen Nachmittag gegen 14 Uhr bis abends gegen 20 Uhr. Ein ähnliches Muster fanden letztes Jahr US-Chronobiologen, als sie etwa eine halbe Milliarde Twitter-Tweets auswerteten: Negative Tweets gab es zwischen Mitternacht und etwa 7 Uhr am Morgen; das ausgeprägte Stimmungstief lag um 3 Uhr in der Nacht. Diese Ergebnisse sind nur Steinchen im Mosaik des Wissens, wie stark Menschen ihrer eigenen Zeit unterworfen sind.
Unnatürliches Lichtspektrum
«Nehmen Sie das Beispiel der Melatoninausschüttung», sagt Cajochen. Das Hormon sorgt dafür, dass der Mensch müde wird, einschläft und beizeiten wieder aufwacht. Weil Melatonin im Alter weniger gebildet wird als in jungen Jahren, neigen Senioren zur senilen Bettflucht, und Jugendliche schlafen hingegen bis in die Puppen. «Wir konnten zeigen, dass die Melatoninausschüttung durch das Farbspektrum von Computer-, Smartphone- und Tabletbildschirmen beeinflusst wird», sagt Cajochen.
Im Vergleich zu Licht aus Glühbirnen oder Neonröhren hat das Farbspektrum dieser Monitore, die mit LED arbeiten, einen sehr hohen Anteil von blauem Licht: «Und dieser sorgt offenbar dafür, dass die Bildung von Melatonin im Körper verlangsamt wird.» Cajochen und seine Mitarbeiter massen die Konzentration von Melatonin im Speichel von Probanden, die dem Licht von LED-Bildschirmen, und solchen, die dem von Nicht-LED-Bildschirmen ausgesetzt waren. Jene, die ihre Zeit im Licht mit dem hohen Blauanteil verbrachten, hatten kurz nach Mitternacht etwa um 15% niedrigere Melatoninwerte. Die Forscher nehmen an, dass sie deshalb auch später müde wurden.
Die Arbeiten von Cajochen und anderen helfen, gesellschaftliche Veränderungen zu verstehen, denn wir leben mittlerweile in einer «multiscreen online society», wie er es ausdrückt. Jugendliche verbringen pro Woche etwa 53 Stunden vor Bildschirmen und sind dort einem Lichtspektrum ausgesetzt, das sich so in der Natur und auch in der bisherigen Beleuchtungstechnik nicht findet. Das könnte den Wach-Schlaf-Rhythmus verschieben und uns zu einer ständig übermüdeten Gesellschaft führen. Mittlerweile gibt es schon Handy-Apps, die das Spektrum der Beleuchtung an die Tageszeit anpassen.
«Blaues Licht wie Espresso»
Allerdings konnte Cajochen auch eine interessante Auswirkung des blauen Lichts auf die geistige Leistungsfähigkeit feststellen. Dafür mussten Versuchspersonen abends neue Wörter lernen und sie dann später wieder richtig erkennen. Menschen, die unter dem Licht von LED-Monitoren lernten, schafften eine Erfolgsquote um 60%. Wer unter einem Nicht-LED-Monitor lernte, kam gerade einmal auf knapp 50%. Das Ergebnis könnte darauf hindeuten, dass ein tiefer abendlicher Melatoninspiegel die Aufmerksamkeit positiv beeinflusst. «Blaues Licht ist wie ein Espresso», sagt Cajochen.
Sollte, wer etwas lernen will, sich also eine Lampe mit einem hohen Anteil mit blauem Licht besorgen? Das könnte wirken, doch nur kurzfristig, denn die verzögerte Melatoninausschüttung hat einen Nebeneffekt, der auf lange Sicht ziemlich schläfrig macht: Der hohe Anteil an blauem Licht und das daraus folgende spätere Müdewerden sorgen für eine Verschiebung des Tag-Nacht-Rhythmus bei den Probanden, die so aus ihrem Rhythmus kommen. Wer abends länger aufbleibt und trotzdem zeitig aufsteht, baut über die Zeit ein Schlafdefizit auf, das irgendwann abgebaut wird. «Der Mensch muss sein Schlafbedürfnis stillen», sagt der Forscher. Irgendwann muss auch jeder «Schlafmacho» – wie Cajochen jene nennt, die Leistung auf Kosten ihres Schlafbudgets erbringen – in die Federn sinken.
16 Stunden lang leistungsfähig
Früh in seiner wissenschaftlichen Karriere hat sich Cajochen mit der Frage beschäftigt, wie lange ein Mensch ohne Schlaf leistungsfähig sein kann. «Mehr als 16 Stunden liegen nicht drin.» Er mass verschiedene physiologische Parameter, die auf Müdigkeit und erhöhtes Schlafbedürfnis hinweisen. Dazu gehören neben dem Plasmaspiegel des Melatonins auch die Durchblutung der Finger, die Häufigkeit von langsamen Augenbewegungen und das Auftreten von Episoden des Sekundenschlafs.
Egal, welche dieser Messgrössen Cajochens Team auch betrachtete, nach etwa 16 Stunden Wachphase stiegen die Müdigkeitsparameter an. «Das ist ein deutliches Zeichen, dass nach einer bestimmten Wachzeit die Leistungsfähigkeit rapide abnimmt.» Das zu erkennen, war eine der grossen Leistungen der Chronobiologie. Arbeiten in Fachblättern machten mit dem Mythos der leistungsfähigen «Schlafmachos» Schluss: Nach einer durchwachten Nacht machen Chirurgen ein Fünftel mehr Fehler und brauchen etwa 15% länger, und Assistenzärzte, die nach einer 24-Stunden-Schicht nach Hause fahren, verursachten 165% mehr Verkehrsunfälle als ihre Kollegen, deren Schicht kürzer war.
«Diese Studien sorgten dafür, dass in den USA die Arbeitszeiten für Mediziner begrenzt wurden», sagt Cajochen. Davon profitieren vor allem die Patientinnen und Patienten, die jetzt von eher ausgeschlafenen Ärztinnen und Ärzten behandelt werden. Gut so, denn wie aus einer anderen Arbeit bekannt wurde, entsprechen die Konzentrations- und die Reaktionsfähigkeit von jemandem, der 24 Stunden lang wach war, jenen einer Person, die mit knapp einem Promille Alkohol im Blut unterwegs ist. So jemand gehört weder in den Operationssaal noch mit einer verantwortungsvollen Aufgabe betreut oder hinters Steuer – so jemand gehört ins Bett.
Test: Eule oder Lerche?
Sind Sie eher ein Abend- oder eher ein Morgentyp, eine Eule oder eine Lerche? Das Zentrum für Chronobiologie hat einen Online-Fragebogen zum Schlaf- und Wachverhalten entwickelt, mit dem Sie Ihren sogenannten Chronotyp selbst herausfinden können.
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