Identität durch Religion
Text: Urs Hafner
Viele Migranten und Migrantinnen aus Ex-Jugoslawien suchen wie andere Einwanderer Orientierung in der Religion – im Islam, aber auch im Christentum. Der Islamwissenschaftler Maurus Reinkowski plädiert für einen historisch informierten Blick auf die identitätsstiftende Funktion von Religionen.
In Belp bei Bern steht eine serbisch-orthodoxe Kirche. Ihr Äusseres erinnert auffällig an byzantinische Architektur, im Innern ist sie, ganz anders als die hiesigen christlichen Gotteshäuser, vollständig bemalt. Wer sie zum ersten Mal betritt, steht ganz im Bann der exotisch-ikonenhaften Darstellungen. Wenn der 2013 vollendete Sakralbau keine christliche Kirche, sondern eine Moschee wäre, dann wäre er wohl – für diese Aussage braucht man kein Prophet zu sein – verhindert worden.
Nicht alle in der Schweiz lebenden Serbinnen und Serben sind religiös. Manche von ihnen aber haben sich zu betont religiösen Diaspora-Gruppen zusammengeschlossen. Diese orthodoxen Gemeinden versammeln Migranten und Migrantinnen, denen sie nicht nur «spirituelle Güter», sondern auch Beratung, Bücher und kulturelle Aktivitäten anbieten. Ihr wichtigstes Ziel ist laut eigener Aussage, das negative Image der Serben zu verbessern.
Gruppen in der Diaspora
Tatsächlich schlägt den Serben in der Schweiz oft Misstrauen entgegen, wie etwa auch den Kroaten. Auch diese sind vom Balkan eingewandert, auch sie schliessen sich oft zu religiösen Diaspora-Gruppen zusammen. Bei einer Strassenumfrage würden wohl viele Passanten angeben, dass Kroaten und Serben christlich seien, würden sie jedoch, wie die Migranten aus südosteuropäischen Ländern generell, einer «balkanischen» Kultur zuordnen, die sie vage mit dem «Islamischen» assoziieren würden.
Noch vor einem Vierteljahrhundert waren alle diese südosteuropäischen Bevölkerungsgruppen für den westlichen Aussenstehenden schlicht Jugoslawen. Sie waren eingefasst in Josip Broz Titos sozialistisch-integrativen Vielvölkerstaat, in dem die Religionen offiziell keine Rolle spielten. Nach Titos Tod im Jahr 1980 und besonders in den Zerfallskriegen Jugoslawiens ab 1991 wollten sich verschiedene Gruppen ihrer Identität mit ethnischen und religiösen Differenzierungen versichern. Ähnliches ist bei den ex-jugoslawischen Migranten zu beobachten: Zurückgeworfen auf die Frage, wer sie eigentlich sind, suchen sie verstärkt in religiösen und ethnischen Selbstzuschreibungen nach Identität.
Während die christliche Selbstvergewisserung weitgehend unbeachtet bleibt – siehe das Beispiel der Kirche von Belp –, findet der islamische Glaube der Migranten vom Balkan grosse Beachtung. Seit «9/11» werden Muslime, auch die aus Südosteuropa, pauschal des Islamismus verdächtigt. Davon zeugt etwa das vom Schweizer Stimmvolk im Jahr 2009 ausgesprochene «Minarettverbot». Die Migranten werden oft auf ihre – islamische – Religiosität reduziert.
Selbstvergewisserung über Religion
Dennoch findet der Islamwissenschaftler Maurus Reinkowski von der Universität Basel, dass man die religiösen Vorstellungen der südosteuropäischen Migranten ernst nehmen sollte: «Gerade in der Diaspora wird die Religion oft zu einer wichtigen Quelle von Werten und Normen. » Doch die über die Religion vermittelte Selbstvergewisserung der Albaner, die vor allem aus dem Kosovo und Mazedonien kommen, und die der Bosnier verlaufe viel komplexer, als die Islamismus-These vermuten lässt. Wer die Migranten und Migrantinnen verstehen wolle, müsse auch ihre Religion verstehen.
Die religiöse Identität der Albaner etwa sei brüchig, sagt Reinkowski. Schon ihr Selbstverständnis weise darauf hin: Sie hätten, wie sie oft argumentieren, während Jahrhunderten an der Bruchlinie zwischen Ost- und Westrom gelebt und die Wechselhaftigkeit der Religion immer wieder neu erfahren. Nach dem Zweiten Weltkrieg habe sich der albanische Staatsatheismus unter Enver Hoxha auf diese historische Erfahrung berufen. Auch die erfolgreiche Unabhängigkeitsbewegung der kosovarischen Albaner sei ohne Religion ausgekommen. «Die Kosovo-Albaner definieren sich weniger über die Religion als über Ethnie und Sprache. Sie finden ihre Identität in ihrem Modernitätsanspruch, der lautet: Wir sind prinzipiell eurokompatibel, und wir sind die besseren Migranten und Migrantinnen, weil die Religion für uns nicht wichtig ist», so Reinkowski.
Gegen «Homogenisierung des Islams»
Anders verhält es sich mit der albanischen Bevölkerung Mazedoniens. Unter ihr hätten sich anstelle des «Volksislams», einer traditionellen Religiosität, verschiedene Formen der islamischen Orthodoxie etabliert. Das rühre unter anderem daher, dass die Albaner im Konflikt mit der Mehrheit der Mazedonier eine religiöse Abgrenzung suchen. Ähnliches sei bei den Bosniern zu beobachten. Da sie sich gegenüber Kroaten und Serben kaum durch eine «eigene» Sprache abgrenzen können, fänden sie ihre Identität vermehrt im Islam, sagt Reinkowski.
In Reaktion auf die Etablierung des Islams führt die Schweiz nun Lehrstühle für islamische Theologie ein; darunter am Schweizerischen Zentrum für Islam und Gesellschaft in Freiburg. Diese Entwicklung sieht Reinkowski positiv. So entwickle sich in Westeuropa eine eigenständige islamische Theologie, die nicht mehr – vor allem aus der Türkei – importiert wird. Allerdings warnt der Wissenschaftler vor einer «Homogenisierung des Islams»: «Man sollte nicht glauben, die von islamischen Theologen vertretene Auffassung des Islams sei die einzige. Es gibt eine reichhaltige Tradition und nicht zuletzt eine lebendige Volksreligiosität.»
Reinkowski hofft, dass die islamische Theologie in der Schweiz und anderen Staaten die Differenzen und Schattierungen der Traditionen und Diskurse dieser Religion herausarbeiten kann. Zur Realität gehöre auch – ob einem das nun passe oder nicht – der derzeit populäre orthodoxe Islam, der in Kontrast zum einst ausgeprägt «weichen» Islam Südosteuropas stehe.
Weitere Artikel in der aktuellen Ausgabe von UNI NOVA.