Nachbarschaften 2.0
Text: Samuel Schlaefli
Verlieren Nachbarschaften in einer individualisierten und zunehmend mobilen Gesellschaft an Bedeutung? Nein, sagt die Kulturanthropologin Christina Besmer. Sie veränderten nur ihre Form – beeinflusst von zunehmender Diversität und Digitalisierung in der Gesellschaft.
«Sharing Society» anstelle von Wegwerfgesellschaft, so das Credo von Pumpipumpe.ch, einem globalen Nachbarschafts-Netzwerk, das vor sechs Jahren von zwei Schweizer Grafikerinnen gegründet wurde. Über 9000 Haushalte organisieren sich heute über diese Onlineplattform und mittels Sticker an ihren Briefkästen nachbarschaftlich. Wer sich keine Velopumpe oder Bohrmaschine kaufen will, weil er oder sie diese nur jedes Vierteljahr einmal braucht, kann auf einer digitalen Karte nachschauen, wo in der Umgebung jemand ein solches Gerät ausleiht – und dieses vor Ort abholen. Zudem verschickt Pumpipumpe.ch Stickers, mit welchen alle Beteiligten durch Aufkleben an ihren Briefkästen zeigen, was sie alles ausleihen können.
Superdiverses Matthäusquartier
Pumpipumpe.ch steht für eine neue Form der nachbarschaftlichen Organisation: in ein zeitgenössisches Design verpackt, durch digitale Medien unterstützt und bewusst spassbetont. Für die Kulturanthropologin Christina Besmer von der Universität Basel ist das Projekt ein Beispiel für eine Praxis, die sie «Doing Neighbourhood» nennt: «Darunter verstehe ich Nachbarschaft nicht als etwas Gegebenes und Unveränderliches, sondern als ein soziales Gefüge, das von Menschen immer wieder produziert und reproduziert wird – jedoch zu jeder Zeit und je nach Kontext in anderer Form.»
Besmer beschäftigt sich seit 2013 mit «dem Machen» von Nachbarschaften. Ihre Forschung ist Teil des SNF-Projekts «Medienwelten und Alltagsurbanität», in dem aktuelle soziale Entwicklungen im Unteren Kleinbasel untersucht werden. Das Matthäusquartier, das Besmer als Ausgangspunkt ihrer Forschung diente, ist geprägt von dem, was Kulturwissenschaftlerinnen «Superdiversität» nennen: eine Bevölkerung nicht nur vielseitig an unterschiedlichen Nationalitäten, sondern auch an Lebensstilen, Religionen, Mobilitätsmustern und Altersgruppen.
Besmer begann ihre Feldforschung mit Wahrnehmungsspaziergängen und der Teilnahme an Quartieranlässen. Dabei erlebte sie eine Überraschung: «Städte werden gemeinhin als Orte der Anonymität, der Dichte, Bewegung und Flüchtigkeit verstanden. Dazu kommen Diskurse über Globalisierung, digitale Vernetzung, Individualisierung, welche alle auf einen Bedeutungsverlust von lokalen Gemeinschaften und Räumen hinweisen.» Den Diskurs vor Ort nahm sie jedoch anders wahr: «Überall fanden sich Bezüge zu den Begriffen ‹Quartier› und ‹Nachbarschaft›. Zum Beispiel in Mitwirkungsverfahren, lokalen Events und neuen Apps, die das Kennenlernen von Nachbarn erleichtern sollten.»
Besonders während der teilnehmenden Beobachtung in städtischen Mitwirkungsverfahren zeigte sich für Besmer bald, wie stark der Begriff Nachbarschaft normativ aufgeladen ist. Seit 2005 ist in Basel-Stadt die partizipative Stadtentwicklung in Form von Mitwirkungsverfahren in der Kantonsverfassung verankert. Die Verfahren sollen garantieren, dass die Bevölkerung in die Gestaltung ihrer unmittelbaren Umgebung involviert wird, auch jene ohne Stimmrecht.
Die Beteiligung sei zwar freiwillig, sagt Besmer, doch liege den Verfahren immer auch die Vorstellung des Quartiers als einer Einheit zugrunde, die geteilte Wertvorstellungen darüber hat, wie wichtig Partizipation ist. Dadurch würden Menschen in unterschiedlichen Lebensphasen, mit unterschiedlichem sozialem, ökonomischem und kulturellem Kapital, mit verschiedenen Raumbezügen, Lebensstilen und Herkünften als ein einheitliches Kollektiv konstituiert. «Anstrengungen, die Interaktion und Nachbarschaft im Quartier stärken, sind deshalb immer auch ein Versuch, etwas zusammenzuhalten, das unter Bedingungen der Superdiversität auseinanderstrebt.»
Komplexität greifbar machen
In ihrem Forschungsprojekt geht Besmer der Frage nach, wie Nachbarschaften in unterschiedlichen sozialen Kontexten hergestellt werden. «Das hilft uns auch zu verstehen, wie das urbane Zusammen- oder Nebeneinanderleben bei Superdiversität organisiert ist.» Zusätzlich zur teilnehmenden Beobachtung in Mitwirkungsverfahren und weiteren Veranstaltungen führte die Forscherin 20 leitfadengestützte Interviews mit Quartierbewohnern und -bewohnerinnen durch sowie mit Personen, die in verschiedenen Funktionen am «Nachbarschaft-Machen» im Quartier beteiligt sind. In den Gesprächen traf sie oft auf dasselbe Motiv: «Nachbarschaft hilft, die Komplexität einer modernen, globalisierten Gesellschaft durch Herunterbrechen auf den lokalen Raum greifbar zu machen.»
Die Kulturanthropologin nennt dafür ein konkretes Beispiel: Im August 2013 nahm sie an einer Anti-Littering-Kampagne teil, genannt Trashmob, die nach einem Diskussionsabend des Stadtteilsekretariats Kleinbasel initiiert worden war. An einem Samstagnachmittag sammelten rund 60 Freiwillige Abfall im Quartier: «Damit ist das globale Abfallproblem zwar noch lange nicht gelöst, aber die Beteiligten konnten im überschaubaren Raum konkret etwas dagegen unternehmen.» Interessantes Detail: Inspiration für die Aktion war eine ähnliche Kampagne in Indien, über die jemand aus der Gruppe im Internet gelesen hatte. Insofern ist der Trashmob auch ein Beispiel dafür, wie sich lokale Entwicklungen vermehrt mit globalen verschränken.
Neue Konzeptionen durch neue Medien
Weiter zeigte sich während Besmers Forschung: Der Begriff Nachbarschaft wird von unterschiedlichen Gruppen mit divergierenden Bedeutungen gefüllt. Für den Kanton sind Nachbarschaften in erster Linie ein Potenzial für die offizielle Stadtentwicklung. Für autonome Gruppen sind sie die Basis für den Widerstand dagegen. Und Start-ups wiederum erkennen in Nachbarschaften Möglichkeiten, um Apps zu entwickeln, mit denen sich einmal Geld verdienen lässt.
Gerade die Digitalisierung und die neuen Medien hätten in den letzten Jahren nochmal eine neue Dynamik in «Doing Neighbourhood» gebracht, erzählt Besmer. «Früher waren Nachbarschaften durch den eigenen Wohnort räumlich klar definiert und unausweichlich. Heute sind sie oft selbst gewählt und temporär.» Das Portal Pumpipumpe.ch ist damit nicht nur Ausdruck einer neuen Lust am Teilen, sondern auch von zunehmend flexibilisierten sozialen Beziehungen.
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