Demografie und Arbeitsmarkt.
Text: Jörg Becher
Wie wirkt sich die Überalterung der Gesellschaft auf den Arbeitsmarkt aus? Statt Spekulationen will Ökonomieprofessorin Conny Wunsch dazu handfeste Antworten liefern – mit einem realitätsnahen Modell.
Kaum ein Phänomen wird so kontrovers diskutiert wie der demografische Wandel: Droht der Schweizer Wirtschaft ein gravierender Fachkräftemangel, wenn in den kommenden zehn, fünfzehn Jahren immer mehr «Babyboomer » ins Pensionsalter kommen? Oder lässt sich der absehbare Schwund an Menschen im erwerbsfähigen Alter auch in Zukunft problemlos durch den verstärkten Zuzug qualifizierter Arbeitskräfte aus dem Ausland auffangen?
Überlagert werden die Unwägbarkeiten von der Digitalisierungsdebatte: Die zu erwartenden Fortschritte in Technik und künstlicher Intelligenz würden zu einem noch nie dagewesenen Produktivitätsschub mit riesigen Effizienz- und Wohlstandsgewinnen führen, verheissen die Kulturoptimisten. Gleichzeitig gibt es aber auch Stimmen, die uns eindringlich davor warnen, dass im Zug der fortschreitenden Digitalisierung bis zu 50 Prozent der bestehenden Jobs wegrationalisiert werden könnten.
Anpassungen und Veränderungen
Isoliert betrachtet, seien derlei Vorhersagen – vor allem, wenn es sich dabei um Horrorszenarien handle – ein ausgesprochener Unsinn, sagt Prof. Dr. Conny Wunsch, Professorin für Arbeitsmarktökonomie an der Universität Basel. «Technologieschübe führen erfahrungsgemäss nur zu einem vorübergehenden Wegfall von Arbeitsplätzen. Und zwar, weil parallel dazu in andern Bereichen neue Arbeitsmöglichkeiten entstehen, die den Wegfall kompensieren oder sogar überkompensieren. Die meisten Modelle ignorieren zudem komplett, dass sich das Angebot an Arbeitskräften an neue Gegebenheiten anpassen kann», kritisiert die in Arbeitsmarktfragen spezialisierte Ökonomin.
Nicht nur die Reaktionsfähigkeit der Erwerbstätigen wird in der Regel vernachlässigt, wie Wunsch erklärt. Auch Veränderungen in der Nachfrage der Unternehmen nach Arbeitskräften würden von den gängigen Modellen zu den Auswirkungen des demografischen Wandels nur ungenügend erfasst. Meist werde die Arbeitsnachfrage aus praktischen Gründen für konstant erklärt, obschon bestimmte Parameter wie etwa die Löhne schwanken können. Zudem seien viele Unternehmen in der Lage, sich an ein verändertes Arbeitsangebot anzupassen – etwa durch gezielte interne Weiterbildungsmassnahmen oder indem sie fehlende Fachkräfte durch Mitarbeitende ähnlicher Qualifikationsstufen oder verwandter Berufsgruppen ersetzen.
Im Rahmen eines Nationalfondsprojekts möchte Wunsch mehr Licht in solche Fragen bringen und zu einer Versachlichung der kontroversen Debatten beitragen. «Ich halte es für unsinnig, alles über einen Kamm scheren zu wollen», sagt sie: «Man muss die Auswirkungen möglichst differenziert betrachten, weil auch die Lösungen für das eine oder das andere Problem völlig unterschiedlich sind.»
Gegenläufige Entwicklungen
Die Forschenden konzentrieren sich zunächst auf ein möglichst realitätsnahes Modell des hiesigen Arbeitsmarkts. Dieses soll nicht nur die künftige demografische Entwicklung mit einbeziehen, sondern auch das Zusammenspiel von Arbeitsangebot und -nachfrage abbilden. Die Innovation besteht darin, dass das neue Modell dynamische Anpassungsmechanismen nicht von vornherein ausklammert, sondern eben zulässt. Ein Beispiel dafür sind die Auswirkungen des demografischen Wandels auf die Produktenachfrage – Senioren kaufen andere Güter und Dienstleistungen als Zwanzigjährige – und deren Rückwirkungen auf den Arbeitsmarkt.
So gibt es eine Reihe von Sektoren, in denen die Arbeitsnachfrage wegen des demografischen Wandels deutlich steigen wird (Gesundheitswesen, Altenpflege). Weil viele der neu zu schaffenden Dienstleistungsjobs weder digitalisierbar noch automatisierbar sind, wird sich die Überalterung in bestimmten Wirtschaftszweigen stimulierend auf das Stellenangebot auswirken. Auch im IT-Bereich wird die Nachfrage nach bestimmten technologisch orientierten Funktionen stark zunehmen – so etwa Betreuen, Warten und «Updaten» von Apparaturen und Systemen.
Bei der Digitalisierung und der Überalterung handelt es sich meist um zwei gegenläufige Entwicklungen: Während die demografische Entwicklung ein Teil des Arbeitsangebots wegbrechen lässt, wirkt sich die Digitalisierung dämpfend auf die Arbeitsnachfrage aus. «Es kann sein, dass sich die beiden Effekte gar nicht so stark auswirken werden», sagt Wunsch, «weil die Digitalisierung einen Teil der Problematik des demografischen Wandels auffängt». So könnte sich die Digitalisierungswelle statt als «Jobkiller» vielmehr als ein gutartiger Mechanismus erweisen, der hilft, die drohende Überalterung besser zu bewältigen.
Bei der Entwicklung eines Modells, das dynamische Rückkopplungseffekte zulässt, spielen die sogenannten Substitutionselastizitäten eine wichtige Rolle. Diese lassen erkennen, wie leicht sich jemand mit bestimmten beruflichen Fähigkeiten durch eine Person mit geringerem Qualifikationsniveau ersetzen lässt. Auf Basis einer Unternehmensbefragung hat die Forschungsgruppe nun einen «Index der Betroffenheit» geschaffen, der dies berücksichtigt (vgl. Grafik): Auf einer Skala von 0 bis 100 lässt sich ablesen, wie stark sich der demografische Wandel auf bestimmte Branchengruppen auswirkt, wobei vier Kompetenzniveaus unterschieden werden. Je tiefer der Wert, desto stärker ist eine Branchengruppe betroffen.
Bau und Gesundheit betroffen
Erste Auswertungen lassen deutliche Unterschiede erkennen: Besonders stark vom demografischen Wandel betroffen sind demnach Fachkräfte auf dem Bau (Indexwert 41), während der Ersatz an mittleren Qualifikationsstufen in der IT-Branche (Indexwert 68) kaum zu Problemen führen dürfte. Im Informatikbereich ist dagegen eher ein Mangel an hochqualifizierten Spezialisten zu erwarten. Insgesamt schneiden Baugewerbe und Gesundheitswesen am schlechtesten ab, während der IT-Sektor und andere Dienstleistungsbranchen wesentlich weniger beeinflusst scheinen.
Für später ist eine grosse Befragung von Studierenden an der Universität Basel geplant. Diese soll die bis dato fehlende Information zur Abschätzung des künftigen Arbeitsangebots bringen: Entscheiden sich die jungen Leute für die «richtigen », das heisst in ein paar Jahren von der Wirtschaft nachgefragten Berufszweige? Oder gehen ihre Bildungsanstrengungen an den sich ändernden Erfordernissen des Arbeitsmarktes vorbei? «Anstelle wilder Spekulationen oder einseitiger Betrachtungen sollten wir endlich handfestes Wissen generieren», postuliert Wunsch.
Conny Wunsch ist Professorin für Arbeitsmarktökonomie an der Universität Basel. Unter anderem forscht sie über die Auswirkungen der demografischen Entwicklung auf den Arbeitsmarkt.
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