Soll die Komplementärmedizin wie andere Disziplinen wissenschaftlich erforscht werden, Herr Treutlein?
Text: Philipp Treutlein
Wie soll sich die universitäre Forschung zur Komplementärmedizin stellen? Debatte zwischen einem Pharmazeuten und einem Physiker.
Die Komplementärmedizin deckt ein breites Spektrum ab, von traditionellen pflanzlichen Arzneimitteln bis zu spirituell oder weltanschaulich begründeten Behandlungen. Sie nennt sich «komplementär» zur Schulmedizin, welche sich als wissenschaftliche Medizin definiert und Standards zur Wirksamkeit einer Therapie einfordert. Krankheiten und deren Behandlungen beruhen im schulmedizinischen Verständnis auf physikalischen, chemischen, biologischen und psychischen Prozessen.
Es gibt offensichtlich Krankheiten, die man (noch) nicht molekular versteht, daher kommen in der akademischen Medizin auch Medikamente zum Einsatz, deren Wirkmechanismus noch nicht bekannt ist. Der therapeutische Erfolg heiligt hier die Mittel. Unabdingbare Voraussetzung ist allerdings, dass sich dieser Erfolg empirisch nachweisen lässt, und zwar in klinischen Studien, die anerkannte Standards der wissenschaftlichen Community erfüllen. Dieser Forderung nach empirischer Evidenz für die Wirksamkeit muss sich jede Therapieform stellen, egal, ob sie sich als «komplementär» versteht oder nicht. Die Durchführung und Bewertung solcher Studien ist Aufgabe der medizinischen Forschung und muss unabhängig von Politik, Wirtschaft und Interessengruppen erfolgen.
Für die naturwissenschaftliche Forschung stellt sich darüber hinaus die Frage nach den Wirkmechanismen einer Therapie. Die (bio-)medizinische und pharmazeutische Wissenschaft sucht dabei die molekularen Ursachen von Krankheiten aufzuklären und die Wirkmechanismen von Medikamenten zu verstehen, mit dem Ziel, Medikamente zu verbessern und neue zu entwickeln. Dies gilt auch für Gebiete der Komplementärmedizin wie der Phytopharmazie, in der Pflanzenextrakte auf ihre pharmazeutische Wirksamkeit hin untersucht werden. Dabei ist nicht entscheidend, ob diese aus der traditionellen Volksmedizin stammen oder auf andere Weise gefunden wurden. Solange Moleküle einen reproduzierbaren Effekt im System bewirken – von Enzymaktivitäten im Reagenzglas über Zellkulturen und Tiermodelle bis zum Menschen –, ist der naturwissenschaftliche Ansatz sinnvoll und kann neues Wissen schaffen.
Dieser Ansatz ist jedoch offensichtlich nicht anwendbar, wenn in einem Präparat keine Wirkstoffmoleküle mehr vorhanden sind, wie bei hohen Verdünnungen in der Homöopathie. Abgesehen davon, dass ein überzeugender Nachweis der Wirksamkeit – über den Placeboeffekt hinaus – bisher nicht erbracht werden konnte, sind auch Versuche, die behaupteten Effekte auf einer anderen physikalischen Ebene zu erklären, bislang allesamt gescheitert. Auch der Vorschlag, dass das Lösungsmittel Wasser ein «Gedächtnis» der herausverdünnten Moleküle bewahren könnte, entbehrt jeglicher physikalischen Grundlagen, die wir kennen. Zwar sind in der Vergangenheit auch schon Phänomene von Wissenschaftlern abgestritten worden, bevor sie dann doch nachgewiesen werden konnten. Solche Paradigmenwechsel erfordern jedoch spezifische und belastbare experimentelle Ergebnisse sowie plausible und detaillierte theoretische Überlegungen. Beides fehlt gegenwärtig für die Homöopathie und ist trotz Jahrzehnten der Diskussion nicht in Sicht.
Für eine Universität stellt sich neben der elementaren Forderung nach der Einhaltung wissenschaftlicher und ethischer Standards die Frage, ob ein Forschungsgebiet interessant, vielversprechend und relevant ist. Gibt es neue experimentelle oder theoretische Ansätze, die in den nächsten Jahren spannende Forschung und signifikanten Fortschritt erhoffen lassen? Dies muss die Universität für sich beantworten, unabhängig von Geldgebern. An einer Universität darf man fast alles erforschen – bei strategischen Entscheiden wie der Einrichtung neuer Forschungsgruppen sollten sich Universitäten und Fakultäten aber auf wissenschaftlich interessante, vielversprechende und relevante Themen konzentrieren.
Philipp Treutlein ist Professor für Physik und derzeit Forschungsdekan der Philosophisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät. Er untersucht die Grundlagen der Quantenphysik in Experimenten mit Atomen und Licht und entwickelt neue Anwendungen in der Quantentechnologie.
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