Wer etwas wagt, tut’s auch im Alter.
Text: Christoph Dieffenbacher
Bekanntlich gehen Menschen unterschiedlich gerne Gefahren und Risiken ein. Die individuelle Haltung dazu scheint aber über das Leben hinweg einem klaren Muster zu folgen, ähnlich wie die Intelligenz. Basler Psychologen untersuchen, wie die Risikoeinstellung von Menschen entsteht.
Renato Frey fährt seinen Stehtisch herunter. Das moderne, dunkle Sofa in seinem Büro sieht zwar einladend aus. Aber der Besucher entscheidet sich, lieber am Arbeitstisch des Psychologen Platz zu nehmen, wo der Forscher die Unterhaltung mit Grafiken und Kurven verdeutlicht.
Wer lebt riskanter als andere?
Dass die eigenen Erfahrungen bei allen Entscheidungen im Alltag wichtig sind, scheint banal. Doch welche anderen Faktoren könnten noch eine Rolle spielen, wenn es darum geht, «Entscheidungen unter Risiko und Unsicherheit» zu treffen? Damit bezeichnen Fachleute jene Entscheidungen, bei denen nicht 100-prozentig feststeht, welche Konsequenzen unser Handeln mit sich bringen wird – die allermeisten also. Eine weitere Frage: Kommt es zusätzlich noch auf die konkrete Situation an oder auf die momentane Befindlichkeit? Und überhaupt: Welche Gruppen von Personen sind risikofreudiger als andere?
Ältere Menschen und Frauen entscheiden tendenziell weniger risikoreich, zitiert Frey neueste Studien. Doch müsse dieser Befund differenziert betrachtet werden. Wie er mit andern Forschenden herausfand, treffen Ältere gewisse Entscheidungen gleich gut wie Jüngere – trotz ihrer geringeren geistigen Beweglichkeit. Doch dies gelte nur, wenn die Zahl an Möglichkeiten begrenzt ist. Erst wenn die Auswahl gross ist, mache sich der Altersunterschied bemerkbar.
Dass Männer bei Entscheidungen eher Risiken eingehen als Frauen, sei zwar statistisch nachweisbar, aber: «Offen bleibt, ob solche Geschlechterunterschiede Ergebnisse von biologischen oder von kulturellen Einflüssen sind.» Um diese Fragen zu klären, brauche es aufwendige Modellierungen mit verschiedenen Messinstrumenten. Dies bedinge auch, neue «spielerische Risikotests» zu entwickeln. Die Forschenden möchten dabei der komplexen Realität immer näherkommen.
Auf der Suche nach dem R-Faktor
«Wie wir uns bei Risiken normalerweise entscheiden, kann ziemlich gut mit einem Faktor ausgedrückt werden, nämlich der Risikopräferenz oder -einstellung», meint der Entscheidungsforscher. Dieser R-Faktor, dem zurzeit weltweit mehrere Forschungsgruppen nachgehen, lässt sich als ein stabiles psychologisches Merkmal bezeichnen. Frey und Kollegen haben diesen R-Faktor kürzlich als Erste in einer Studie mit über 1500 Testpersonen identifiziert. Sie konnten zeigen, dass dieser R-Faktor über die Zeit hinweg erstaunlich stabil bleibt: «Zwar nimmt die Risikopräferenz bei älteren Personen ab, aber wer als junge Person schon ein Draufgänger war, wird eher auch noch im hohen Alter Wagnisse eingehen.»
In dieser Studie hatten die Probandinnen und Probanden einen Tag lang am Computer mit 39 verschiedenen Risikoaufgaben zu verbringen – und diverse Lotterien sowie spielerische Tests zu absolvieren, wie zum Beispiel den «Ballontest». Der funktioniert so: Wer einen virtuellen Ballon aufpumpt, verdient mit jedem Stoss eine bestimmte Geldsumme, doch wenn er platzt, ist der Ertrag wieder weg. Lernen aus Erfahrung scheint da eine vielversprechende Strategie.
Das Besondere an dieser Studie war, dass sich die Testpersonen in Sachen Risiko auch selber einzuschätzen hatten: Tatsächlich fanden die Psychologen einen starken Zusammenhang zwischen solchen Selbstauskünften und realen risikobezogenen Aktivitäten der Beteiligten, etwa dem Rauchen. Verhaltensbasierte Risikotests, so Frey, ergeben dagegen bisher ein sehr inkonsistentes Bild: «Die Menschen zeigen je nach Aufgabe sehr unterschiedliche Risikoverhalten, was vor allem für die Messung der physiologischen und biologischen Grundlagen von Risikoverhalten eine grosse Herausforderung darstellt – wie zum Beispiel bei der Verwendung von funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRI).»
Modelle für Vorhersagen möglich?
So bleibe es denn ein langjähriges Ziel der Verhaltenswissenschaften wie der Psychologie, die Risikopräferenzen der Menschen in Modelle zu fassen, zum Beispiel, um bestimmte Vorhersagen treffen zu können. Lässt sich die Gesamtheit der Bevölkerung einzelnen Risikotypen zuordnen? Es scheint in diese Richtung zu gehen, sagt Frey und erzählt von einer anderen Studie. Dafür ging seine Forschungsgruppe von Daten einer Stichprobe von über 3100 Personen in den USA aus. Modellgestützte Clusteranalysen, die sonst in der Forschung zum maschinellen Lernen verwendet werden, ergaben, dass rund zwei Drittel der Probandinnen und Probanden mit vier grundlegenden Risikoprofilen beschrieben werden konnten.
International sind zahlreiche Teams der Entscheidungspsychologie weiter daran, Risikoverhalten zu erforschen: «Das ist ein anregendes Thema, auch weil es unterschiedliche Disziplinen wie Psychologie, Wirtschaft, Biologie, Medizin und Altersforschung berührt», so Frey. Verhaltensexperimente werden dabei ergänzt durch moderne Messtechniken und bildgebende Verfahren oder auch Methoden wie Eye Tracking, bei dem die Augenbewegungen von Probanden verfolgt werden können.
Klimawandel als systemisches Risiko
Auch zu praxisbezogener Forschung kommt es heute vermehrt. Deren Resultate können nicht nur in Psychologie und Ökonomie, sondern auch in Bereichen wie neue Technologien, Drogen- und Verkehrspolitik sowie Gesundheit angewendet werden. Auch das Thema Risikowahrnehmung – etwa zum 5G-Standard im Mobilfunk – bleibt aktuell. Dies nicht zuletzt bei systemischen Risiken. Dort sei das Problem, so Frey, dass die Folgen von Risikoentscheidungen nicht sofort eintreffen, sondern oft sehr viel später – wie etwa beim Klimawandel.
Deshalb besteht weiterhin ein grosser Bedarf: nämlich zu testen, wie generalisierbar die Angaben und das Verhalten der Versuchspersonen im Labor mit ihrem wirklichen Risikoverhalten in der Realität übereinstimmen. Selbsteinschätzungen basieren gemäss den kognitiven Modellierungen von Frey in der Tat stark auf eigenen Erfahrungen, die Leute im Alltag gemacht haben. Ein optimistischer Befund also, mit dem der Forscher den Besucher wieder hinaus in die Welt voller Risiken entlässt.
Weitere Artikel in der aktuellen Ausgabe von UNI NOVA.