Wie uns das Gedächtnis täuschen kann.
Text: Martin Hicklin
In vielen Situationen wählen wir jene Optionen aus, an die wir uns am stärksten erinnern. Ein Grund für diese Tendenz ist, dass uns schwache Erinnerungen ein Gefühl von Unsicherheit geben.
Wenn wir uns entscheiden müssen, rufen wir im Alltag laufend aus dem episodischen Gedächtnis mehr oder weniger verlässliche Erinnerungen ab. Diese benötigen wir, wenn es zum Beispiel darum geht, ein Restaurant zu wählen, das man mit Kolleginnen und Kollegen besuchen könnte. Oder wenn mit Freunden ein Wanderwochenende geplant ist.
Da werden verschiedene Optionen vor das geistige Auge treten, die einen besonders lebhaft, andere eher blass erinnert. Obwohl alltäglich genutzt, ist das Zusammenspiel zwischen Gedächtnis und dem kognitiven Prozess des Entscheidens erstaunlicherweise wenig erforscht. Das möchte Prof. Dr. Sebastian Gluth mit seinem Team der Abteilung Decision Neuroscience an der Fakultät für Psychologie ändern. Die Zusammenhänge zwischen den im «episodischen Gedächtnis» gespeicherten konkreten Erinnerungen und dem Prozess des Entscheidens sind sein wichtigstes Forschungsthema.
Verzerrender Einfluss
Welche Option warum schliesslich siegt und wie objektiv die Erinnerung mitspielt, haben Gluth und Mitforschende vor einigen Jahren untersucht. Weder in Restaurants noch auf Wanderwegen, sondern vor dem Bildschirm im Labor, wo es galt, Snacks zu bewerten, sich ihre Verbindung mit einer Art Memory-Kärtchen zu merken und schliesslich eine Kärtchen-Wahl zu treffen, ohne dass der dazugehörende Snack gezeigt wurde.
Die Versuchsanlage hat sich bewährt. Belegt wurde in einem komplexen Versuch mit 30 Teilnehmenden, dass in dieser Situation meist jene Optionen gewählt wurden, an die sich die Probanden am besten erinnerten. Das auch dann, wenn der zugehörige Snack zuvor eher als schlecht bewertet worden war.
Der hier wirksame verzerrende Einfluss des Gedächtnisses wird als «Memory Bias» bezeichnet. Er war nun zwar nachgewiesen. Aber die Mechanismen dahinter blieben ungeklärt. Diese Lücke hat nun Gluth mit den Doktorierenden Regina Weilbächer und Peter Kraemer gefüllt. Die drei testeten die Hypothese, dass die Wahl einer vergessenen oder schwach erinnerten Option gleichbedeutend ist mit der Wahl einer unsicheren Option. Unsicherheit, so weiss man auch aus der Forschung, hat niemand gern und wird im Prinzip eher gemieden.
Risiken, wenn Verluste drohen
Für den Versuch nutzten die Forschenden eine ältere und gut belegte Beobachtung aus der Unsicherheitsforschung: In zahlreichen Studien der vergangenen Jahrzehnte hatten Wissenschaftler um die beiden Psychologen Amos Tversky und Daniel Kahneman gezeigt, dass Menschen, wenn es ums Gewinnen geht, die sicherste Wahl bevorzugen sowie Glücksspiele oder Lotterien meiden. Genau umgekehrt aber gehen sie eher Risiken ein, wenn es darum geht, sichere Verluste zu vermeiden. Dieses Phänomen nannten Kahneman und Tversky den Reflection Effect. Basierend auf dieser Forschung und der Hypothese, dass Unsicherheit eine Ursache des Memory Bias ist, erwarteten nun Gluth und Kollegen, dass sich eben jener Memory Bias umkehrt, wenn es um Verlustentscheidungen geht.
Und tatsächlich: Auch beim Experiment, in dem es darum ging, aus dem Gedächtnis zu wählen, wurde – wenn eine Belohnung winkte – auf gut erinnerte «sichere» Optionen gesetzt. Dieses Verhalten wendete sich aber ins Gegenteil, wenn es darum ging, Verluste zu vermeiden. Die im Experiment getesteten Vermutungen erwiesen sich als realistisch – und man versteht nun die Rolle, die das Gedächtnis bei Entscheiden unter Risiko spielt, ein Stück besser.
Konsequenzen könnte das in verschiedener Hinsicht haben. So scheuen ältere Menschen bei ihren Entscheiden oft Risiken mehr als junge. Das soll nach allgemeinem Vorurteil seinen Grund in ihren festgefahrenen Vorstellungen haben. Doch vielleicht ist eine andere, überraschende Erklärung für das Phänomen das schwindende Gedächtnis. Das ist zwar – anders als die Tatsache abnehmender Gedächtnisleistung im Alter – experimentell (noch) nicht erforscht und belegt, kann aber als starke Vermutung aus der aktuellen Forschung des Teams der Abteilung Decision Neuroscience gefolgert werden.
«In unserer Forschung interessieren wir uns dafür, wie man Entscheidungen so gut und genau wie möglich voraussagen kann. Das gehen wir auf verschiedenen Ebenen an», sagt Gluth. Er leitet als Assistenzprofessor die Abteilung Decision Neuroscience, einen der Pfeiler des Schwerpunkts Sozial-, Wirtschafts- und Entscheidungspsychologie. Man arbeite in der Fakultät eng zusammen. Verbindend ist laut offiziellem Beschrieb «die Begeisterung für die Erforschung menschlicher Entscheidungen im sozialen und wirtschaftlichen Kontext».
Neurowissenschaftliche Verfahren
Gluth bringt als besonderen Beitrag Erfahrungen mit neurowissenschaftlichen Verfahren wie funktionaler Magnetresonanzbildgebung (fMRI) mit. Ein Alleinstellungsmerkmal. Die Methoden sind wertvoll, wenn es darum geht, die mit den untersuchten psychischen Vorgängen zusammenhängenden Abläufe im Gehirn zu identifizieren. Das sieht Gluth in erster Linie als Ergänzung. Vor allem aber würden die Methoden helfen, die Validität der Entscheidungsmodelle zu testen und sie besser zu machen. «Ich bin in erster Linie Psychologe», sagt Gluth, «ich möchte wissen, wie Denken und Entscheiden funktionieren. Mein Ziel ist nicht einfach nur, zu wissen, was dieser oder jener Gehirnteil macht.»
Um ein Maximum an Transparenz zu erreichen, gelten für Gluth und sein Team von Anfang an die Regeln von «Open Science». Das verbessert die Wiederholbarkeit der Experimente und die Reproduktion ihrer Ergebnisse massiv. Darum werden alle Experimente und das geplante Vorgehen detailliert im Voraus registriert. So können andere Forschende und Interessierte auf dem Server des Open Science Framework (OSF, www.osf.io) bereits erfahren, welche Hypothesen getestet werden sollen, was die Daten sind, aus denen die Vermutungen abgeleitet wurden, was man bereits weiss und wie man vorzugehen plant.
Auch die Rekrutierung der Studienteilnehmer, ihre Zahl und die Massnahmen, die getroffen werden, um die Resultate statistisch robust zu machen, sind im Voraus öffentlich, und mit ihnen selbst die Skripte der Modelle, mit denen gerechnet wird. Das ist eine Einladung zu kreativer Kritik. Ist eine Arbeit publikationsreif, wird sie vor der Veröffentlichung in einer wissenschaftlichen Zeitschrift auf einem für psychologische Forschung eingerichteten Preprint-Server publiziert und der fachlichen Kritik ausgesetzt. Erst dann wird publiziert, und zwar vornehmlich in einer Fachzeitschrift, die den öffentlichen Zugang (Open Access) ohne Bezahlschranke erlaubt. Mehr kann man sich für mit öffentlichen Mitteln finanzierte Forschung gar nicht wünschen.
Weitere Artikel in der aktuellen Ausgabe von UNI NOVA.