Ein wiederentdeckter Anti-Reformator.
Text: Christoph Dieffenbacher
Der Basler Dichter und Humanist Atrocian schrieb in polemischen Schriften vergebens gegen die Reformation an. Er ging vergessen. Ein Forschungsteam hat sein gedrucktes Werk erstmals übersetzt und kommentiert herausgegeben.
Die Unruhen jener Jahre machten auf die Zeitgenossen einen tiefen Eindruck: Pfarrer verweigerten das Predigen, Unbekannte stahlen heimlich Heiligenbilder aus Kirchen und Klöstern, Versammlungen und private Messen arteten in Handgemenge aus. Schliesslich zertrümmerten in Basel militante Neugläubige im Februar 1529 Kirchenschmuck, raubten Kruzifixe und Altäre aus dem Münster und verbrannten das Holz in grossen Fasnachtsfeuern. Mit diesem Bildersturm siegte in Basel die Reformation mit ihrem Anführer Johannes Oekolampad. Der Bischof musste abdanken.
Spärliche Lebensdaten
Dem konfessionellen und gesellschaftlichen Umsturz waren jahrelange Debatten vorangegangen, an denen sich zahlreiche Humanisten mit Beiträgen, Streitschriften und Predigten intensiv beteiligten. Die Kirche geriet unter heftigen Beschuss. Einer der Gegner dieser Neuerungen – und späterer Verlierer – war Johannes Atrocian, der in literarisch-politischen Schriften die Kirche verteidigte und immer wieder gegen die Reformation anschrieb.
Atrocians Werke sind nun von einem Team der Universität Basel in mehrjähriger Arbeit erstmals vollständig gesammelt, übersetzt und kommentiert worden. «Dieser Autor ist bis heute weitgehend vergessen – die Geschichte wird bekanntlich von den Siegern geschrieben», sagt Prof. Dr. Henriette Harich-Schwarzbauer, Latinistin an der Universität Basel, die die Edition mit Dr. Christian Guerra und Dr. Judith Hindermann verantwortet.
Kämpferischer Charakter
Schon die spärlichen Lebensdaten waren nicht leicht zusammenzustellen. Wie die Forschenden belegen, ist Atrocian mit Johann Grimm gleichzusetzen, der seinen Namen wie andere Humanisten in eine antike Sprache übersetzte. Abgeleitet vom lateinischen «atrox» (hart, streng, grimmig), passte er auch zu seinem kämpferischen Charakter. Erschwerend für die Forschung war, dass der Autor lange irrtümlich mit zwei andern Trägern des gleichen Namens identifiziert wurde.
Das Leben des Anti-Reformators ist jetzt mehr oder weniger enträtselt: Geboren Mitte der 1490er-Jahre in Ravensburg, studierte er in Wien und 1513/14 an der Universität Basel. Danach war er hier und in St. Gallen Schulmeister und Privatlehrer, ab 1528 am Augustiner-Chorherrenstift St. Leonhard in Basel. Nach dem Siegeszug der Reformatoren verliess Atrocian die Stadt im Frühling 1529, zusammen mit andern, darunter seinem Drucker Johannes Faber. Mit Frau und zwei Söhnen liess er sich zunächst in Colmar nieder, vermutlich bis 1535, dann im katholischen Luzern, wo er ab 1543 die Lateinschule im Barfüsserkloster leitete.
Aufbruchstimmung
Atrocians Lebenslauf bildet denn auch die Beziehungsnetze der damaligen Gelehrten ab, wie auch seine poetisch anspruchsvolle Epigramm-Sammlung zeigt: Ihn hatte es vor allem wegen der Universität und den berühmten Buchdruckern nach Basel gezogen. Hier kam er auch mit bedeutenden Humanisten wie Erasmus von Rotterdam, Johannes Froben, Beatus Rhenanus und Bonifacius Amerbach in Kontakt. Je stärker sich in den 1520er-Jahren in Basel die Umstürze der Reformation abzeichneten, desto häufiger kam es unter ihnen zu Konflikten. Erbittert schrieb Atrocian vor allem gegen einen an: gegen Johannes Oekolampad, den späteren erfolgreichen Reformator der Stadt.
In den Reihen des Klerus stellte Atrocian zwar durchaus Missstände wie Ausschweifungen, Glücksspiele und Ablasshandel fest, was er ebenfalls kritisierte. Er trat aber dafür ein, dass die Probleme nur innerhalb der Amtskirche selbst gelöst werden konnten. Innere Umgestaltung statt Abspaltung und Gründung einer neuen Konfession – in diese Richtung zielten seine Texte.
Atrocian, ein Gegner des neuen Glaubens, wurde in seinen späteren Schriften immer desillusionierter – bis er Basel schliesslich verliess. Wie die Basler Latinistik-Forschenden mit Blick auf die Bibliothekskataloge feststellten: Sein Werk hatte wohl nur eine beschränkte Verbreitung – vor allem im süddeutschen Raum – und verschwand relativ schnell in den Archiven. Doch dass der Autor später bei den Nachfolgern des Reformators Johannes Calvin, etwa bei Théodore de Bèze, in Genf geläufig war, zeigt wiederum, dass er mit seinen Werken trotzdem einen gewissen Bekanntheitsgrad besass.
Die Messe klagt
Die nun übersetzten, edierten und kommentierten Schriften stammen alle aus den entscheidenden Monaten vor der Reformation. Damit geben sie Einblicke in jene hitzige Epoche, auch wenn viele Zusammenhänge einem heutigen Publikum erklärt werden müssen. So liess Atrocian in seiner längeren Elegie «Querela Missae» die Messe als eine Frau sprechen, die sich aus dem Grab heraus über ihr Schicksal beklagt. Tatsächlich wurde die althergebrachte Messe in Basel wenige Wochen nach Erscheinen der Schrift abgeschafft – die Reformation hatte gesiegt.
Atrocian meinte, dass die Ideen der Reformation auch für die Bauernaufstände von 1525 verantwortlich waren, die er in seinem Werk «Elegia de bello rustico» aus moralischer Sicht beschrieb. Darin lobt er den Frieden und trauert um die zahlreichen gefallenen Bauern, die von einem falschen Lehrer – gemeint ist Luther – verführt worden seien. In andern Texten griff er eine allgemeine Bildungsfeindlichkeit an, die er überall um sich herum sah: Der humanistische Kanon gehe vergessen, und die Schüler würden von den Lehrern verführt, so seine Klage.
Neulatein wenig erschlossen
Anschaulich schilderte Atrocian auch immer wieder in kürzeren Szenen aus dem Alltag, wie die Reformation die Menschen verdorben habe, erklärt Mitherausgeber Christian Guerra. «Dies geschah allerdings oft poetisch stark verfremdet, wie es für die Zeit typisch war», ergänzt seine Kollegin Judith Hindermann. Sein Stil sei zwar einfach, aber oft monoton und «einhämmernd». Anspruchsvoll zum Übersetzen sei vor allem, die komplexen theologischen und gedanklichen Zusammenhänge adäquat wiederzugeben.
«Die Reformationszeit am Oberrhein ist generell gut erforscht – die Stimme des Atrocian allerdings erst jetzt», sagt Harich-Schwarzbauer. Die Edition, für die auch Fachleute aus Theologie und Geschichte beigezogen wurden, soll weitere Forschungen anregen. Denn in Basel gebe es noch «etliche Trouvaillen zu entdecken»: Texte aus jener Zeit, die vor allem in Neulatein geschrieben und gedruckt wurden. Diese Sprache bilde damit überhaupt «die grösste noch nicht erschlossene Literatur Europas», so Harich-Schwarzbauer.
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