Die Modellhaftigkeit von Bildern
Text: Karen N. Gerig
Wenn wir Bilder betrachten, tun wir das vor dem Hintergrund unseres Vorwissens. Der Kunstwissenschaftler Markus Klammer erforscht, wie Bilder funktionieren und wie wichtig dabei Modelle sind.
Lange bevor der Mensch schreiben konnte, schuf er Bilder. Jagdszenen in Höhlenmalereien sind uns heute noch bekannt, wenn wir auch nur wenig darüber wissen, wie und weshalb sie entstanden sind. Und doch können wir daraus Erkenntnisse ziehen: dass die frühen Menschen auf die Jagd gingen, welche Tiere damals lebten, welche die Menschen jagten und mit welchen Waffen.
Doch waren die Malereien Anleitungen zur Jagd? Oder wurden damit den Kindern Geschichten erzählt? Über den Kontext wissen wir kaum noch etwas. Dabei ist der Bezugsrahmen essenziell, wenn wir Bilder lesen wollen – wir betrachten sie immer unter einem bestimmten, historisch und kulturell geprägten Vorwissen. Der Kontext entscheidet mit, wofür ein Bild steht und welche Freiheiten in der Interpretation wir uns nehmen dürfen.
Träume und das Unbewusste
Aus diesen Gründen spielt der Kontext auch in den Forschungen von Markus Klammer eine grosse Rolle. Der Vizedirektor von «eikones» und Inhaber der Schaulager-Professur für Kunsttheorie an der Universität Basel untersucht seit mehreren Jahren die Funktionsweisen von Bildern, indem er das Modellhafte in ihnen in den Fokus rückt. Schon seine Dissertation verfasste er 2010 über die Funktion von Bildern in der Psychoanalyse Freuds. Für den Psychoanalytiker waren Träume Bilder – halluzinierte Wahrnehmungseindrücke, die auf das Unbewusste verweisen.
Zur Veranschaulichung der Funktionsweisen des Unbewussten selbst gebrauchte auch Freud modellhafte Bilder: etwa den Wunderblock, jenes Spielzeug, das aus einem Deckblatt über einem Wachsblock besteht. Beim Zeichnen wird das Blatt leicht ins Wachs gedrückt, sodass die Linien sichtbar werden. Durch Anheben des Papiers lassen sich die Spuren entfernen, sie bleiben aber im Wachsblock erhalten. Freuds Unbewusstes entspräche dem Wachs, in das vergangene Eindrücke zwar eingebrannt, aber nicht mehr sichtbar sind.¨
Die Komplexität dieses Themas führte Klammer zu seinen aktuellen Forschungen: Um schwer fassbare Sachverhalte beobachtbar zu machen, sind ihm zufolge Modelle unabdingbar. «Modelle erklären uns die Welt, weil sie helfen, komplexe Zusammenhänge in ihrer Reduktion auf das Wesentliche zu begreifen. Modelle dienen immer spezifischen Zielen und Zwecken», erklärt er und zählt Modellformen auf, die wir aus unserem Alltag kennen: mathematische Diagramme, physikalische Modelle des Atoms, aber auch soziale Stereotype und politische Symbole.
In der Kunstgeschichte fungieren jene Bilder als Modelle, die zu einem Kanon gehören, weil wir sie als exemplarisch empfinden, zum Beispiel für einen bestimmten Stil. Die verschiedenen Kanons sind im Lauf der Geschichte einer ständigen Neuaushandlung unterworfen, das heisst: «Wir arrangieren Serien, Gruppen und Zusammenhänge von künstlerischen Arbeiten immer wieder neu, abhängig davon, welche Werke wir als modellhaft ansehen.»
Sinnlicher Überschuss
Den Bildern kommt unter den Modellen eine besondere Rolle zu, weil sie mehr als nur komplexe Sachverhalte anschaulich machen. «Bilder liefern einen sinnlichen Überschuss», sagt Klammer. «Als Modelle zeigen sie potenziell mehr, als sie zeigen wollen.» Während bei einem technischen Diagramm beispielsweise der Farbe keine bestimmte Rolle zukommt, ist jede Nuance in einem Gemälde relevant und kann mit einer bestimmten Deutung aufgeladen werden.
Und wie geht man nun mit diesem Überschuss um? «Er bietet uns eine gewisse Freiheit», sagt Klammer. «Denn er lässt verschiedene Interpretationen zu und bietet uns die Möglichkeit, Dinge zu entdecken, die vorher nicht gesehen wurden oder nicht bewusst intendiert waren.»
Der Philosoph Roland Barthes schrieb Bildern einen «dritten Sinn» zu. Neben der intendierten Botschaft, die ein Bild aussendet, und einem kulturell kodierten symbolischen Gehalt existiert eine dritte, spezifisch bildliche Ebene der Kommunikation, die quer zu den beiden anderen steht und sie nicht selten konterkariert. Klammer führt als Beispiel eine Fotografie des aktuellen US-Präsidenten an, auf welcher er mit dem Finger ins Publikum zeigt: «Erstens sehen wir hier das Individuum Donald Trump. Zweitens sehen wir den machtvollen Gestus eines Präsidenten. Drittens aber können wir dieses Zeigen im Sinne Barthes’ interpretieren als autoritäres Gebaren, das mehr verrät, als es soll.»
Auch hier zeigt sich, wie wichtig unser Vorwissen ist. Je nach Kontext ändern sich sowohl das Modellhafte wie auch die Interpretationsmöglichkeiten. «Mich interessiert, unter welchen Voraussetzungen die Bedeutungsfülle der Bilder eingeschränkt wird», sagt Klammer. «Und wie man sie im Gegenzug wieder erweitern kann.» Dafür erforscht er die Strukturen der Modellbildung. «Das klingt zunächst abstrakt», sagt er. «Doch Grundlagenforschung ist wichtig, denn auch die Bildwissenschaft benötigt ein methodisches Fundament.»
Modelle als Perspektiven
Zu diesem methodischen Rahmen möchte Klammer einen Beitrag leisten. Er will demonstrieren, dass «gute Modelle» zeigen, dass sie nur Perspektiven sind, und mit seinen Forschungen auch Hand bieten zur Kritik: «Es soll immer die Möglichkeit des spezifischen Widerspruchs geben.» Seine Erkenntnisse sollen in verschiedenen Disziplinen bildwissenschaftliche Anwendung finden können, von den Kunst- bis zu den Naturwissenschaften.
Auch in «eikones» wird in Projekten auf Postdoktorierenden-Ebene in unterschiedlichen Disziplinen über Bildmodelle weitergeforscht werden können. Möglich ist dies durch das Engagement der NOMIS Foundation im Rahmen eines internationalen Fellowship- Programms. So ist die Option, an der Universität Basel im Rahmen des Modellthemas spezifische Projekte zu erforschen, weithin präsent. Der Sammelband, den Klammer zusammen mit Andreas Cremonini zu diesem Thema herausgibt, wird wohl bald zur Standardlektüre gehören.
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