Müssen wir Gesetzen immer gehorchen, Herr Wild?
Text: Markus Wild
Wer gegen geltendes Recht verstösst, muss mit Konsequenzen rechnen. Welche Gründe gibt es aus philosophischer Sicht, sich trotzdem nicht an Gesetze zu halten?
Im September 2020 demonstrierten Aktivistinnen und Aktivisten auf dem Berner Bundesplatz. Sie forderten vom Parlament, schnell weitgehende Massnahmen gegen den Klimawandel zu ergreifen. Da Kundgebungen auf dem Bundesplatz während der Session verboten sind, war die Demonstration bewusster politisch motivierter Ungehorsam gegen das Gesetz. Als ich die Aktion besuchte, sagte ein Herr zu mir, dass sich die Aktivistinnen und Aktivisten mit dieser Aktion viele Sympathien verscherzten. Ich entgegnete, dass sie meine Sympathien hätten. Der Herr meinte empört: «Wir haben die beste Regierung der Welt!» Sein Argument war offenbar, dass in einer starken rechtsstaatlichen Demokratie wie der Schweiz ziviler Ungehorsam keinen Platz hat. Stimmt das?
Überlegen wir, was gute Grunde sein könnten, Gesetzen zu gehorchen. Ich fürchte, für die meisten Leute sind Erziehung, Konformismus und Sanktionen die einzigen Gründe. Doch gibt es gute moralische Gründe für den Gesetzesgehorsam. Gesetzen soll man gehorchen, weil sie alle als Freie und Gleiche respektieren. Weiter soll man ihnen aus Fairnessgründen gehorchen: Gesetze garantieren, dass Lasten und Gewinne in einer Gesellschaft gleichmässig verteilt sind. Und schliesslich ermöglichen sie es, den Schwachen unter die Arme zu greifen. Gesetze haben also Anspruch auf Gehorsam, wenn sie die natürlichen Pflichten von Respekt, Fairness und Samaritertum jedes Einzelnen auf die Ebene einer Gemeinschaft heben.
Gesetzesgehorsam ist umso mehr angezeigt, wenn die Gemeinschaft an der Einrichtung dieser Gesetze beteiligt ist (durch Wahlen oder Abstimmungen). Und ich mochte ergänzen: Wenn dieser Vorgang auf dem besten Stand unseres Wissens begründet ist. Eine Demokratie hat dann Anspruch auf Gesetzesgehorsam, wenn ihre Entscheidungsprozesse auf Informationen beruhen, die nicht nur zufällig zu richtigen Entscheidungen führen und die die natürlichen Forderungen von Respekt, Fairness und Samaritertum einhalten.
Nun kann es geschehen, dass in einer Demokratie Gesetze gelten, die Respekt, Fairness oder Samaritertum massiv verletzen. Die Gesetze zur «Rassentrennung» in den USA oder das den Schweizerinnen bis 1971 vorenthaltende Stimmrecht sind Beispiele. Auch der Raubbau an den natürlichen Ressourcen lassen Respekt, Fairness oder Samaritertum vermissen, nämlich zukünftigen Generationen gegenüber. Der Ausschluss eines beachtlichen Teils der Schweizer Wohnbevölkerung von demokratischer Mitbestimmung oder die fehlende Repräsentation von Tieren in der Gesetzgebung sind weitere Beispiele.
Wenn Respekt, Fairness und Samaritertum gute Gründe sind, Gesetzen zu gehorchen, ist deren massive Verletzung ein ebenso guter Grund, ihnen nicht zu gehorchen, gerade in einer Demokratie. Eine Möglichkeit ist der zivile Ungehorsam. Er ist ein Mittel der politischen Kommunikation, dramatisiert schwere Missstände und fordert im Namen von grundlegenden Werten schnelle, effektive Änderungen. Er möchte mitteilen, dass es ernst ist, die Zeit drängt, dass man bereit ist, die eigenen Interessen hintanzustellen zugunsten einer übergeordneten Sache.
Das war und ist der Sinn des Klima-Ungehorsams wie bei der oben beschriebenen Demonstration. Auch Formen des Corona-Ungehorsams können Berechtigung haben, wenn sie im Namen von Respekt, Fairness und Samaritertum und auf dem besten Stand unseres Wissens begründet sind. Allerdings schneiden die Corona-Proteste unter diesem Gesichtspunkt im Vergleich zu den Klimaprotesten vermutlich weitgehend miserabel ab.
Hinweis: Der Beitrag wurde im August 2021 verfasst und beruht auf den Entwicklungen bis zu diesem Zeitpunkt.
Markus Wild ist Professor für Philosophie. In seiner Forschung befasst er sich mit der Philosophie des Geistes – unter anderem mit Intentionalität und Bewusstsein – sowie mit Tierphilosophie und Tierethik.
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