«Fast 40 Prozent der Pflegefachleute steigen aus.»
Interview: Christian Heuss
Personalmangel und schlechte Arbeitsbedingungen im Gesundheitsbereich geben immer wieder zu reden. Pflegewissenschaftler Michael Simon erklärt, wo man das System verbessern müsste, warum eine Akademisierung nicht zum Problem wird und wie Pflegeroboter helfen könnten.
UNI NOVA: Herr Simon, Sie sind gelernter Krankenpfleger. Würden Sie diesen Beruf heute noch einmal wählen?
Michael Simon: Ja, auf jeden Fall. Es ist ein wirklich abwechslungsreicher Beruf, der darauf ausgerichtet ist, anderen Menschen auf vielfältige Weise zu helfen. Man sieht den Nutzen der eigenen Arbeit jeden Tag direkt vor sich.
Was macht diesen Beruf für Sie so besonders?
Die Pflege bietet eine interessante Mischung: Einerseits hilft man mit recht einfachen Massnahmen, andererseits gibt es viele komplexe Herausforderungen, die ein hohes Mass an Expertise erfordern. Das reicht von der klinischen Einschätzung der Patientensituation über die Verabreichung von Medikamenten bis zur Unterstützung von Patientinnen und Patienten bei chronischen Erkrankungen. Auch das sprichwörtliche Schwätzchen auf dem Flur gehört dazu.
Medien und Politik sprechen von einem Pflegenotstand. Ist die Lage wirklich so kritisch?
Ja, das ist sie. Der Bedarf an Pflege steigt durch die demografische Entwicklung weiter. Die Menschen werden immer älter und sind beim Eintritt in eine Pflegeeinrichtung immer pflegebedürftiger, mit noch komplexerem Gesundheitszustand, das heisst, sie haben in der Regel mehrere chronische Erkrankungen. Gleichzeitig verlieren wir über die kommenden Jahre viele erfahrene Pflegefachpersonen, die in den Ruhestand gehen. Und schliesslich geben viele gut ausgebildete Pflegefachleute ihren Beruf vorzeitig auf.
Der frühzeitige Ausstieg von Pflegepersonal ist aber kein neues Phänomen …
So ist es. Schon vor 20 Jahren haben internationale Studien gezeigt, dass viele Pflegekräfte den Beruf vorzeitig verlassen. Heute geben fast 40 Prozent der ausgebildeten Pflegefachleute den Beruf früher oder später auf. Wir brauchen dieses Personal dringend und müssen Massnahmen ergreifen, um diese Menschen im erlernten Beruf zu behalten.
Was sind die Gründe, dass Pflegefachleute aus ihrem Beruf aussteigen?
Sie sind vielfältig. Zum Beispiel verliert die Pflege viele Fachpersonen in der Familienphase. Und viele Gesundheitsorganisationen, Spitäler und Spitex sind noch immer zu unflexibel. Es heisst dann: «Du kannst bei uns nur mit einem bestimmten Mindestpensum arbeiten.» Das schliesst kleinere, individuell angepasste Pensen aus. Diese sind jedoch gerade in der Familienphase wichtig. Wenn Fachpersonen die Bindung an die klinische Praxis verlieren, wird eine spätere Rückkehr erst recht schwierig.
Unregelmässige und kurzfristige Schichten und starre Kita-Strukturen gehen auch nicht zusammen.
Ja, genau. Viele Gesundheitsbetriebe haben schon verstanden, dass es Anpassungen und Arbeitszeitmodelle braucht, die besser auf die Bedürfnisse der Mitarbeitenden eingehen können. Viele Spitäler sind flexibler geworden und bemühen sich, passende Angebote zu entwickeln.
Zeitmodelle sind das eine. Aber geht es nicht auch darum, das Berufsbild noch attraktiver zu gestalten?
Die Schweiz hat da schon einige Schritte gemacht über die letzten 15 Jahre. Der Pflegeberuf ist heute viel stärker ausdifferenziert. Wir haben die dreijährige Ausbildung als Fachangestellte Gesundheit, die Diplomausbildung an der höheren Fachschule sowie Bachelorstudiengänge, Masterstudiengänge und Doktorate, zum Beispiel bei uns an der Universität. Auf der einen Seite haben wir die Eintrittshürden in die Pflegeberufe gesenkt, auf der anderen Seite gibt es weiterführende Ausbildungsmöglichkeiten.
Aber wenn die Leute an die Uni kommen, sind sie weg vom Spitalbett. Verstärkt das nicht das Versorgungsproblem?
Das ist eben nicht so. Die allermeisten Studierenden bei uns im Masterstudium wollen weiterhin klinisch arbeiten. Im Studium erlernen sie Fähigkeiten, um die Herausforderungen im Gesundheitswesen zu analysieren und Lösungsansätze zu entwickeln und umzusetzen. Eine Pflegefachperson kann einen Master machen und dann als Advanced Practice Nurse spezialisiertes Wissen auf eine Station oder in eine Pflegeinstitution bringen. Das macht die Berufsaussichten interessanter und steigert die Behandlungsqualität.
Was sind die grössten Herausforderungen beim Pflegepersonalmangel auf den Spitalstationen?
Es gibt zu viele offene Stellen und der Arbeitsmarkt ist ausgetrocknet. Beim durchschnittlichen Schlüssel von Pflegenden steht die Schweiz im Vergleich zwar relativ gut da, aber je nach Setting reicht das nicht. Zum Beispiel schwankt die Bettenauslastung in vielen Spitälern stark. Diese Schwankungen bedeuten, dass auf einigen Stationen Pflegefachpersonen in den Spitzen komplett überlastet sind, während auf anderen Abteilungen relativ wenig zu tun ist. So entstehen extreme Patienten-zu-Personal-Relationen, in denen die Anzahl der Patientinnen und Patienten pro Pflegefachperson stark von den Durchschnittswerten abweicht. Solche Schwankungen sind schwer vorherzusagen und zu managen.
Was sind die konkreten Folgen?
Je stärker die Schwankungen sind, um so häufiger kommt es zu diesen extremen Patienten-zu-Personal-Relationen. Das führt dazu, dass zum Beispiel Patientenbeobachtungen und Prophylaxen, also insgesamt notwendige Pflegemassnahmen, verspätet oder gar nicht durchgeführt werden. Ausgelassene Pflegetätigkeiten führen zu qualitativen Problemen in der Pflege, schaden den Patientinnen und Patienten und belasten die Pflegefachpersonen.
Wie liesse sich dieses Problem lösen?
Eine einfache Lösung gibt es nicht. Man müsste Schwankungen bei der Arbeitsbelastung durch ein verbessertes Kapazitätsmanagement sowie eine bessere Personalplanung reduzieren. Dazu gehört, dass wir besser auf die Schwankungen in der Patientenzahl reagieren können, etwa durch eine flexiblere Schichtplanung oder den Einsatz von Reservekräften. Wir sehen aber auch eine enorme Zunahme der kurzfristigen Ausfälle des Personals, insbesondere seit der Covid-Pandemie.
Warum?
Vor der Pandemie war das System stabiler. Wir hatten mehr Personal, auch mehr Reservepersonal, das einspringen konnte. Wir haben kürzlich eine Studie bei Pflegefachleuten in der Onkologie gemacht, dort gibt es bis zu 30 Prozent kurzfristige Personalausfälle. Und diese Ausfälle werden in 80 Prozent der Fälle nicht ersetzt. Dieses Resultat hat uns sehr überrascht.
Wie hängt das mit der Pandemie zusammen?
Durch die Pandemie wurden alle Reserven des Gesundheitssystems mobilisiert und dieses hat sich davon nicht wieder erholt. Jetzt gehen noch viele Babyboomer in Rente, die in der Zukunft selbst Pflege benötigen.
Wie kann man diese enormen Lücken füllen?
Wir brauchen neue Lösungen, um die Pflege zu organisieren, und werden wohl künftig vermehrt auch mit weniger gut ausgebildetem Personal arbeiten müssen. Und die Pflegefachpersonen brauchen mehr Kompetenzen, um dieses Personal auch führen zu können. In der Schweiz hat die Gesundheitspolitik immer damit gerechnet, dass Fachpersonal aus dem Ausland kommt. Und tatsächlich ist das für viele Arbeitnehmende aus dem Ausland interessant. Ob das in Zukunft noch gehen wird, ist fraglich. Es fehlt überall an Fachkräften, auch in unseren Nachbarländern.
2022 haben wir in der Schweiz die Pflegeinitiative angenommen. Sind Auswirkungen davon bereits spürbar?
Die Pflegeinitiative hat einige positive Impulse gesetzt, wie das Pflegemonitoring, welches im Juli 2024 gestartet ist. Die Ausbildungsoffensiven der Kantone oder die Berufung von Pflegeverantwortlichen in einigen Kantonen, die als zentrale Anlaufstelle für Pflegefragen fungieren, sind ebenfalls eine Folge davon. Das sind wichtige Schritte, aber es braucht weitere, tiefgreifende Massnahmen, um die grundlegenden Probleme zu lösen.
Welche Rolle spielt die Anerkennung der Pflegearbeit in der Gesellschaft?
Eine grosse Rolle. Pflegekräfte leisten enorm viel, doch oft fehlt die entsprechende Wertschätzung, sowohl finanziell als auch im Hinblick auf ihre Expertise. Die Pflege muss als eigenständiger, hochqualifizierter Beruf anerkannt werden, der unverzichtbar für die Gesundheitsversorgung ist.
Glauben Sie, dass Roboter in der Zukunft der Pflege eine Rolle spielen können?
Roboter könnten bei bestimmten Aufgaben unterstützen, wie etwa bei schweren Hebeaufgaben oder der Überwachung von Vitalzeichen. Auch bei der Dokumentation gibt es Verbesserungspotenzial. Aber die Technik ersetzt weder die menschliche Interaktion noch die pflegerische Expertise, die beide für die Pflege zentral sind. Pflege erfordert Fachwissen und Erfahrung, aber auch Empathie und Verständnis und bleibt eine zutiefst menschliche Tätigkeit.
Wo sehen Sie die Entwicklung der Pflege in den nächsten fünf bis zehn Jahren?
Die Pflege wird sich weiter spezialisieren und differenzieren. Neue Versorgungsmodelle werden entstehen, die besser auf die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten eingehen und die Fähigkeiten der Pflegefachpersonen besser einsetzen werden. Es wird mehr spezialisierte Pflegekräfte wie Clinical Nurse Specialists oder Nurse Practitioners geben, die noch eigenständiger arbeiten werden. Deswegen ist es auch so wichtig, dass unser Institut Teil der medizinischen Fakultät ist. Solche Entwicklungen gehen nur gemeinsam mit Ärzteschaft und Pflege.
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