Klänge nach Sonnenuntergang.
Text: Noëmi Kern
In vorindustrieller Zeit musizierte man nicht nur bei Tageslicht. Auch mitten in der Nacht griffen Menschen zum Instrument. Wie Schlafgewohnheiten die Musik prägten.
Wenn wir «Nachtmusik» hören, ist Mozart nicht weit. Seine «Kleine Nachtmusik» ist eines der bekanntesten Stücke klassischer Musik. Mit «Nachtmusik» übersetzt der Komponist den Begriff Serenade ins Deutsche. «Das ist streng genommen nicht richtig: Serenaden wurden abends gespielt und nicht nachts, aber je nach Region wurden die Worte ‹Abend› und ‹Nacht› eben synonym verwendet», sagt Hanna Walsdorf. Die Musikwissenschaftlerin befasst sich im Rahmen des Forschungsprojekts «Die Nachtseite der Musik» intensiv mit Musik nach Sonnenuntergang.
Die Idee zum Projekt kam der Professorin für Musikwissenschaft an der Universität Basel, als sie auf die Arbeiten des Historikers Roger Ekirch stiess. Dieser belegte, dass Menschen vor Beginn des industriellen Zeitalters in zwei Schichten schliefen, die von einer längeren Wachphase unterbrochen waren. «Dieser Umstand muss sich auch in musikalischen Praktiken widerspiegeln», sagt Hanna Walsdorf. Untersucht hat das bisher aber niemand.
Künstliche Beleuchtung.
Wie sich die Schlafgepflogenheiten auf die Musik auswirkten, untersucht das Basler Projekt anhand von kirchlicher Musik, weltlicher Musik und Musik im Theater in Europa von 1500 bis 1800. Mit dem Buch- und Notendruck verbesserte sich die Quellenlage ab dem 16. Jahrhundert erheblich, während ab dem 18. Jahrhundert die zunehmende Beleuchtung von Strassen und öffentlichen Plätzen auch den Schlafrhythmus der Menschen veränderte.
Selbstredend gibt es aus dieser Zeit keine Tonaufnahmen und auch Notenblätter enthalten nicht allzu viele Informationen über musikalische Praktiken. «Wir müssen deshalb um die Ecke denken und auf Ikonografie und Texte zurückgreifen», sagt Hanna Walsdorf. Auf bildlichen Darstellungen taucht zum Beispiel immer wieder der Nachtmusiknarr auf. Dieser stellt sich mit seiner Laute unter das Fenster seiner Auserwählten und singt. Gefällt ihr sein Ständchen nicht, entleert sie ihren Nachttopf auf die Strasse. «Das muss nach dem ersten Schlaf gewesen sein, sonst wäre im Nachttopf ja noch gar nichts drin», so die Wissenschaftlerin.
Andere Abbildungen zeigen Adlige beim nächtlichen Musizieren. Diese Szenen sind erleuchtet von Kerzen, Fackeln oder Kronleuchtern, sie zeigen Cembalo, Laute oder Bassgeige. Licht und Instrumente musste man sich leisten können – zudem brauchte Musizieren Musse, die die unteren Bevölkerungsschichten nicht hatten. Hanna Walsdorf spricht von einer doppelten Ressourcenfrage: Zeit und Geld. Manche französischen Könige hatten gar einen persönlichen Lautenspieler neben dem Bett.
Regulierungen durch die Obrigkeit.
Über die Musik im Alltag der ärmeren Bevölkerungsgruppen ist weniger bekannt. Indirekte Informationen über ihren Zugang zur Musik finden die Forschenden in Schriftstücken: Städte stellten Ordnungen über nächtliches Singen, Grölen und Tanzen auf – was ihnen offenbar nötig schien. Ausnahmen dieser Regeln bildeten Hochzeiten, der Karneval oder die Gastronomie. Überliefert sind auch Beschwerden von sogenannten Bierfiedlern, die in Tavernen aufspielten und mitunter nicht einverstanden waren mit ihrer Bezahlung.
Auch religiöse Rituale waren mit Musik verknüpft. «Wir wissen, dass sich die Menschen nachts zu privaten Andachten zusammenfanden und zum Beispiel geistliche Lieder sangen», so die Musikwissenschaftlerin. Pfarrer führten ein Register, wer in der Gemeinde ein Gesangbuch oder eine Bibel besass. Ausschweifenden Festen stand die Kirche hingegen kritisch gegenüber: Tanz wurde mit Volksmagie und dem Teufel in Verbindung gebracht.
Nächtliche sakrale Handlungen gab es auch in den Klöstern, man denke etwa an das Mitternachtsgebet. «Mönche und Nonnen standen nicht extra dafür auf, sie waren ohnehin wach», sagt Hanna Walsdorf. Mitter-Nacht sei dabei wörtlich zu verstehen, als Zeitraum «mitten in der Nacht» zwischen der ersten und der zweiten Schlafphase – und nicht nach dem heutigen Verständnis punkt 12 Uhr nachts.
Laute Abendmusik und leise Nachtklänge.
Musikalische Aktivitäten in religiösen und weltlichen Kontexten nach Sonnenuntergang bestanden aus der Abendmusik vor dem ersten Schlaf und der Nachtmusik nach dem ersten Schlaf. Sie unterschieden sich beim Repertoire und in der Aufführungspraxis.
«Vor allem in der warmen Jahreszeit wurde Abendmusik draussen gespielt; dabei konnten dann auch die typischen lauten Freiluftinstrumente wie zum Beispiel Pauken und Trompeten zum Einsatz kommen. Nachtmusik war hingegen Indoor-Musik für leisere Instrumente wie z.B. Cembalo oder Clavichord, Streich- und Zupfinstrumente.» Mozarts «Serenade Nr. 13 für Streicher in G-Dur» ist zumindest hinsichtlich der Instrumentierung also ein ambivalenter Fall. «Sie klingt aber nicht schlafanregend, sondern eher aufputschend», wendet Hanna Walsdorf ein.
Das Spiel mit Licht und Dunkelheit.
Richtete sich die musikalische Praxis der Menschen nach deren Schlafrhythmus, so stellte das Theater einen Sonderfall dar. Die Darstellung der Nacht als Zeitintervall in einer dramatischen Handlung erforderte eine ausgeklügelte Lichtregie. In schriftlichen Quellen finden sich Überlegungen, wie sich die Illusion von Tag und Nacht auf der Bühne erzeugen lässt. Zur Aufführung kamen Inszenierungen von Träumen und Albträumen, geheimen nächtlichen Treffen und okkulten Handlungen wie etwa des Hexensabbats. «Mit dem Beleuchtungsgrad wollte man auch zwischen Himmel und Hölle unterscheiden können», erläutert die Forscherin.
Was den Hexensabbat angeht, müsse man sich fragen, woher diese Vorstellung komme, dass sich Gestalten nachts auf einem Berg zusammenfanden und zu «teuflischer Musik» tanzten. Ihre Antwort: Es ist ein Fünkchen Wahrheit enthalten. Nächtliche Tanzgelegenheiten gab es tatsächlich – der Teufel wurde freilich hinzugedichtet. «Nacht und Dunkelheit dürfen also keineswegs mit schlafen gleichgesetzt werden – weder damals noch heute», sagt Hanna Walsdorf.
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