Die Unbeirrbare.
Text: Irène Dietschi
Als Forscherin setzt Mirjam Christ-Crain neue Massstäbe. «Nie aufgeben», lautet ihre Devise. Damit stösst die Endokrinologin auch in Fachgebiete jenseits des Hormonsystems vor – immer mit Blick auf die Patientinnen und Patienten.
Als junge Assistenzärztin am Universitätsspital Basel erlebte Mirjam Christ-Crain bisweilen, wie auf der Endokrinologie der sogenannte Dursttest praktiziert wurde. 17 Stunden lang durften die Patienten nichts trinken. Die Tür wurde von aussen verriegelt, die Wasserhähne im Innern des Zimmers waren abmontiert.
Das Ziel war, einen möglichen Vasopressinmangel aufzuspüren. Das Hormon Vasopressin, von der Hirnanhangdrüse (Hypophyse) freigesetzt, regelt den Wasserhaushalt im Körper: Es hilft, die Urinausscheidung zu drosseln, wenn der Körper zu wenig Flüssigkeit bekommt; dabei verfärbt sich der Urin dunkelgelb.
Bei Menschen mit Vasopressinmangel versagt dieser Mechanismus – sie müssen bis zu 15 Liter Wasser täglich trinken, um nicht zu verdursten. Der Urin bleibt klar, egal, wie wenig Flüssigkeit von aussen zugeführt wird.
Ansporn für Besseres.
«Jahrzehntelang hat man Vasopressinmangel an den Kliniken indirekt so nachgewiesen», erzählt Christ-Crain. «Für die Patientinnen und Patienten war das eigentlich Folter.» Mehr noch: Der Test war sehr ungenau, nur zwei Drittel der Fälle erfasste er richtig. Für Christ-Crain war das ein Ansporn, etwas Besseres zu finden.
Mittlerweile habilitiert, entwickelte sie einen neuen Test, und zwar mit Copeptin: Dieses Peptid wird ebenfalls von der Hypophyse ausgeschieden, übereinstimmend mit der Freisetzung von Vasopressin. «Doch im Unterschied zu diesem ist das Copeptin im Blut zuverlässig messbar », erklärt die Endokrinologin. «Seither können wir einen Vasopressinmangel viel einfacher diagnostizieren, mit einer Genauigkeit von über 96 Prozent.» Davon profitieren heute Patientinnen und Patienten weltweit.
Intellekt statt Handwerk.
Über die diversen Schritte dieser Forschung erzählt Christ-Crain in ihrem Büro, im Parterre des Universitätsspitals am Petersgraben 4 in Basel. Es ist ein heisser Nachmittag Mitte August, durch die Fenster dringt Baulärm. Doch die Stellvertretende Chefärztin Endokrinologie, Diabetes und Metabolismus lässt sich nicht ablenken: Mit geradem Rücken, die dunklen Haare zu einem Knoten gebunden, sitzt sie am Tisch – konzentriert, freundlich und zugewandt.
Mirjam Christ-Crain hat eine bemerkenswerte Karriere hinter sich. Schon als Studentin sei ihr klar gewesen, dass die Wissenschaft der Hormone, die Endokrinologie, sie am meisten interessierte – «weil es ein ganzheitliches und intellektuelles Gebiet ist, das viel logisches Denken erfordert», sagt sie. Manuell sei sie weniger begabt. «Ich wäre keine gute Chirurgin geworden.»
Stattdessen wurde sie eine exzellente Forscherin: Rund 50 Prozent ihrer Arbeitszeit wendet Christ-Crain für ihre Studien auf. Sie hat viele Auszeichnungen bekommen, 2009 etwa den renommierten Latsis-Preis für ihre Forschung zu Stresshormonen und im vergangenen Juni den ebenso prestigereichen «Otto Naegeli Preis», der normalerweise Grundlagenforschung auszeichnet. Christ-Crain ist die Erste, die den Preis für anwendungsorientierte, klinische Forschung erhalten hat.
Kombinieren und Neues entdecken.
«Sie ist sehr offen für neue, interdisziplinäre Ansätze, dadurch gelingt ihr echte Innovation», sagt der Klinische Pharmakologe Matthias Liechti, mit dem Christ-Crain am Universitätsspital und der Universität Basel zusammenarbeitet. Klinische Forschung könne sehr mühsam sein, sie brauche viel Geld und sei hoch reguliert, sagt Liechti. Christ-Crain lasse sich von solchen Hindernissen nicht abhalten: «Ich habe noch selten jemanden getroffen, die so unbeirrt ihre Ziele verfolgt wie sie.»
Sich mit hellen Köpfen anderer Disziplinen zu vernetzen und so auf neue Ideen zu kommen, das sei «ihr Ding», sagt Mirjam Christ-Crain selbst. So hat auch die Vasopressin-Geschichte eine Fortsetzung gefunden. Diese hat mit Oxytocin zu tun, dem «Kuschelhormon», das ebenfalls von der Hypophyse freigesetzt wird: «In der Sprechstunde ist uns aufgefallen, dass Menschen mit Vasopressinmangel häufig noch andere Symptome haben: Sie sind oft ängstlich, etwas bedrückt, sozial zurückgezogen.» Das habe sie darauf gebracht, dass den Betroffenen auch Oxytocin fehlen könnte.
Ein Test mit Ecstasy.
Doch genauso wie Vasopressin lässt sich Oxytocin nicht direkt im Blut messen, man muss es ebenfalls stimulieren. In diesem Fall gelingt dies – ausgerechnet! – mit MDMA, also Ecstasy. In einer Pilotstudie zusammen mit Matthias Liechti und dem Neuropsychologen Dominique de Quervain konnte Christ-Crain zeigen, dass viele Personen mit Vasopressinmangel tatsächlich zu wenig Oxytocin haben: Während sich nach der MDMA-Gabe bei gesunden Probanden der Hormonspiegel um das Achtfache erhöhte, blieb er bei den Patienten flach. «Dies beweist einen Mangel an Oxytocin bei diesen Patienten.»
In einem nächsten Schritt wird nun in einer grösseren Studie untersucht, ob eine Therapie mit Oxytocin diesen Patienten bezüglich psychologischer Symptome hilft. Die Rekrutierung läuft seit Anfang Januar, 120 Patientinnen und Patienten aus ganz Europa sollen eingeschlossen werden, «das Interesse ist gross», sagt Christ-Crain.
Vielleicht eröffnet sich auf diesem Weg gar ein neues Forschungsfeld, denn: «Möglicherweise hat ein Teil der Menschen, die an Angststörungen, posttraumatischen Belastungsstörungen oder Depressionen leiden, einen Oxytocinmangel – mit oder ohne gleichzeitigen Vasopressinmangel –, und der MDMA-Test ermöglicht es uns, diesen Mangel zu identifizieren», sagt die Forscherin. Aus den Erkenntnissen liesse sich dereinst – vielleicht – eine Therapie für diese Gruppe psychiatrischer Patienten entwickeln. «Das ist alles noch Zukunftsmusik», betont Mirjam Christ-Crain. Doch womöglich führt ihr unermüdlicher Forschungsdrang sie damit bald zu neuen Horizonten in der psychiatrischen Diagnostik.
Mirjam Christ-Crain wurde 1974 als Tochter eines amerikanischen Vaters und einer Schweizer Mutter in Basel geboren. In ihrer Jugend absolvierte sie Wettkämpfe im Mittelstreckenlauf (800 Meter). Nach dem Medizinstudium machte sie die Fachausbildung zur Endokrinologin in Basel und London, 2007 habilitierte sie mit gerade mal 33 Jahren als eine der jüngsten Habilitandinnen der Universität Basel. Seit zehn Jahren ist sie klinische Professorin für Endokrinologie und klinische Forschung an der Universität Basel und stellvertretende Chefärztin der Klinik für Endokrinologie, Diabetes und Metabolismus am Universitätsspital. Sie ist verheiratet und hat drei Kinder im Teenageralter.
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